Bücherherbst

Verbrannte Haut in der Shockdown-Welt, die Enten, das Schlachthaus, ein Manifest muss her, doch wer bestimmt das Leben, Abhängigkeit, die Farbe des Lebens ist rot, eine Armee, ein Sturm, die Geschichte ist noch immer da

Das Leben bestimmen die Enten

Seine Texte waren Auftragsarbeiten sehr eigener Art. Ernst Herbeck lebte von 1946 bis zu seinem Tod 1991 in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Klosterneuburg-Gugging bei Wien: ein Autor, der nie aus eigenem Antrieb schrieb, sondern stets animiert von seinem Arzt, dem nicht unumstrittenen Leo Navratil, der in der Gugginger Psychiatrie eine Art therapeutische Künstlerkolonie installiert hatte. Er gab seinem Patienten ein Stichwort, und umgehend legte Herbeck los und verfertigte seine kleinen, definitorischen, oft in überraschenden Pointen mündenden Gedichte, etwa über „Die Kälte“: „Die Kälte geht in die Finger / und Zehen, wenn es kalt ist. / Es gibt Kälte- und Wärmegrade. / An und für sich ist es immer / kalt.“

„Das Leben der Hühner ist rot“; „Der Igel ist in Albanien ein Haustier“; der Traum ist „eigentlich ein Geschenk / einer anderen Person. Bei Nacht!“: Die eigenwillige Logik, aus rätselhaften Quellen gespeiste Poesie, die abgründige Komik, befremdliche Weisheit und verblüffende Beobachtungspräzision dieser Lyrik faszinierte namhafte professionelle zeitgenössische Kollegen wie Ernst Jandl, W.G. Sebald oder Gerhard Roth, verführte zu einer Verklärung Herbecks zum „Erstgeborenen der Sprache“, „von der Krankheit getarnt“ (André Heller), und im Kontext der Anti-Psychiatrie-Bewegung zur Instrumentalisierung seiner Texte als Manifeste wider die Vernunft und bürgerliche Ordnung.

Dabei ist doch alles ganz einfach, zumindest laut Herbeck, der ein Dichter war, sich vielleicht aber auch nur auf genial anmutende Weise in dessen Rolle einfühlte: Der Dichter „dichtet natürlich / einige Gedichte, Er schreibt diverse / Bände von Büchern, / die man ungetrübt lesen und lesen / kann.“ Entsprechend sollte man die aus Anlass von Herbecks 100. Geburtstag neu aufgelegten Gedichte denn auch ungetrübt lesen und lesen: „Das Leben ist den einen und / den anderen abhängig. Das Leben be- / stimmen die Enten. Somit, zum Bei- / spiel, sind die Hühner von den Enten / abhängig; Und das Pferd von den Kühen.“ Thomas Schaefer

Ernst Herbeck: „Der Hase!!!“ Ausgewählte Texte und Zeichnungen. Mit einem Vorwort von Clemens Setz. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Gisela Steinlechner. Jung und Jung, Salzburg/Wien 2020, 331 Seiten, 28 Euro

Verbrannte Haut in der Shockdown-Welt

Man kennt dieses Gefühl, wenn einem nicht mehr klar ist, nach der Sonne: Ist das noch Sonnenbrand oder schon Sonnenstich? Vielleicht liegt man zudem auf einer Strandliege unter dem Parasol, und ein Beach Boy massiert einem einen Muskel, von dem man bis eben nicht wusste, dass man ihn überhaupt hatte. Man selbst erblickt die Welt nur noch trüb gespiegelt durch ein Stück Alufolie, das dahinflattert über den Sand und auf dem noch ein paar Tropfen Flüssigheroin lauern, das jemand nicht ganz weggeraucht hat. So oder ähnlich fühlt es sich an, Jonas Eika zu lesen. Jedenfalls seinen Storyband „Nach der Sonne“. (Ein Roman, sein eigentliches Debüt, ist bisher nicht ins Deutsche übertragen.)

Der junge Däne Jonas Eika, Jahrgang, 1991, schreibbeschult auf der Forfatterskolen, erzählt so, dass einem duselig werden kann. Aber nicht weil übertrieben viel passieren würde, sondern weil das Passierende dann doch sehr unerhört ist: Ein IT-Experte geht mit einem Banker ins Bett und vertickt die Zukunft – oder hat er dadurch sogar den Krater bewirkt, durch den die Bank, die er beraten soll, gleichsam verschwunden ist?

In einer anderen Story, die an einem Pilgerort für Ufo-Fans spielt, schlitzt sich ein älterer Mann in der Nevada-Wüste den Hals auf, um zu einem Sendemast zu mutieren. Und in „Bad Mexican Dog“, einer in zwei Teilen über den Band fragmentierten Novelle, trifft man auf besagten Beach Boy, der allerdings nicht nur Massagen und Drinks feilbietet, sondern auch Analsex mit einer Sonnenschirmstange hat – und mit Manu, der sich ein Garnelenskelett auf den Schwanz schnallt.

Aus einer anderen Erzählpersektive dagegengeschnitten ist ein Heteropaar im selben Beach-Ressort, das sich von einem Beach Boy (Ist er ein anderer? Ist er derselbe?) ablecken lässt, da er einen Hund spielt, den sie erniedrigen. Hinterher stellt sich das als Videotrickbetrug heraus.

„What the fuck?!“, denkt man immer wieder bei der einnehmenden Eika-Lektüre. Und: „Hat er das gerade wirklich geschrieben oder hab ich zu viel Sonne abgekriegt?“ Eika hat ein Gespür für abwegige Settings und aus der Science-Fiction entliehene Geistesfunken, wie man das vielleicht von Haruki Murakami oder Clemens J. Setz kennt. Oder, stärker literaturgeschichtlich gedacht, von der Literatur E.T.A. Hoffmanns, wo das Phantastische ins Realistische hineinrattert. Aber was Eika damit anstellt, ist viel böser.

Jonas Eika löst, mitunter nahezu unbemerkt inmitten eines Satzes, die Grenzen des Subjekts in seinem Ego-Tunnel auf. Die Verfremdungseffekte in seinen homoerotisch aufgeladenen Plots entlarven die Figuren als Kaleidoskopsteinchen kapitalistischer Verwertungslogik, aber auch als organische Sinneswesen, in Symbiose mit Fauna und Flora. Der Mensch als ökologisch und ökonomisch determiniertes Wesen, das sich besser seine Freiheitsmomente zurückerobern sollte.

Jonas Eika macht es einem in seinem allemal guten, verstörenden Buch nicht einfach, denn seine Figuren sind nur unter starken Vorbehalten Sympathieträger. Doch trotz dieser unterkühlenden Distanzeffekte mit metallischem Nachgeschmack zum Trotz halten sie einen in Bann. Könnte diese crazy Shockdown-Welt, die Eika beschreibt, am Ende unsere eigene sein? Und wie viel After-Sun (oder wie es im Band lyrisch heißt: Nachsonne) bräuchten wir dann, bis unsere verbrannte Haut wieder heil ist? Stefan Hochgesand

Jonas Eika: „Nach der Sonne“. Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Hanser Berlin, Berlin 2020, 160 Seiten, 20 Euro

Die wilden Jahre nach dem Mauerfall

Die Geschichte setzt ein, als Andrej ungefähr acht Jahre alt ist. Er lebt mit Eltern und zwei Brüdern in einer Altbauwohnung im Berliner Stadtteil Mitte, aber eigentlich leben sie weniger zusammen als aneinander vorbei.

Bei Andrejs bestem Freund Simon verhält sich die Sache ähnlich phantastisch: Zwar kann er mit seiner Mutter so konzentriert über Dinosaurier fachsimpeln, dass er die Anwesenheit des Freundes im Zimmer vergisst, aber die meiste Zeit ist er wie Andrej allein. Die Logik der Erwachsenen in Form von Familie oder Schule dringt nur selten ins anarchische Einerlei der Jungs, die sich kaum unterhalten, sich aber trotzdem seltsam spiegeln, die gemeinsam immer älter werden, die frei und ungebunden durch die Tage, Wochen und Monate driften und ziemlich fraglos eher erfühlen als verstehen, wie sich die Stadt um sie herum verändert.

Ostberlin in den Neunzigern ist nicht gerade ein unbeschriebenes Blatt – zuletzt erzählte Lutz Seilers Roman „Stern 111“, der im Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, vom Lebensgefühl im Nachwendeberlin. Der neue Roman des 1983 geborenen Berliner Autors Lorenz Just „Am Rand der Dächer“ beweist, dass die Geschichte von den wilden Jahren in Berlin nach dem Mauerfall trotzdem noch lang nicht zu Ende erzählt ist. Es ist wahnsinnig charmant, wie der Blick des Kinds und Jugendlichen, bei dem sich die Dinge ja gerade auch eher schleppend sortieren, die große Anarchie vom irren Kinderzimmer des Freunds bis zum besetzten Haus gegenüber, das Vakuum zwischen Alt und Neu da draußen quasi verstärkt.

Die Sprache von Lorenz Just, der übrigens ganz genau wie Andrej im Ostberlin der Neunziger aufgewachsen ist, fängt das kindliche Hier und Jetzt, das noch wenig Einordnen und Zusammenfassen kennt, wirklich toll ein, nur sehr selten schimmern kleine Erklärungsversuche des erwachsenen Erzählers durch, die man gut überlesen kann.

Auch später, als es auf die Jahrtausendwende zugeht und Andrej und Simon anfangen, in all die neuen, schicken Dachwohnungen einzubrechen, die ihnen den Weg auf ihre geliebten Dächer versperren, von denen aus man allerdings auch nicht den erhofften Überblick gewinnt, bleibt das Buch angenehm tastend, unordentlich, wertfrei und immer mal wieder wie zufällig Dinge unters Mikroskop legend, die dadurch überdeutlich hervortreten. Was sie in den Wohnungen der Neuberliner anstellen, in die sie einsteigen, das ist übrigens ziemlich überraschend, darf aber an dieser Stelle nicht verraten werden. Susanne Messmer

Lorenz Just: „Am Rand der Dächer“. DuMont Verlag, Köln 2020, 272 Seiten, 17,99 Euro

Ein pathetisches Hurra auf die Kirmes

Angeblich jeder zweite Arbeitsplatz im Schaustellergewerbe ist durch coronabedingte Ausfälle gefährdet. Von dieser Dramatik konnte Philipp Winkler nichts ahnen, als er „Carnival“ schrieb, sie unterfüttert sein zweites Buch jedoch mit einer Dringlichkeit, die ihm sonst fehlen würde.

Seit jeher dienen Jahrmarkt, Rummel, Kirmes allerlei Zuschreibungen: Von Thackerays „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ bis zu Vicky Leandros’ eingängigen Schlagerzeilen „Das Karussell wird sich weiterdrehn, auch wenn wir auseinandergehn“ taugt das Thema mal als Spiegelbild der menschlichen Gesellschaft, mal als Chiffre des Lebens schlechthin, das am besten mit gehörigem Fatalismus hingenommen werden sollte.

Obwohl die Erzählung „Carnival“ mit allerlei Blut-Schweiß-Tränen-Härten angereichert ist, handelt es sich um ein poetisches Pamphlet, dessen „Erzähler“ das „fahrende Volk“ als zwar rauhe, aber umso herzlichere Solidargemeinschaft stilisiert, ein „letztes Hurra auf die Kirmes“ anstimmt und ihrer Gegenwelt, dem ängstlichen, saturierten, vergnügungskonsumorientierten Bürgertum, seine Verachtung entgegenschleudert: „Erst habt ihr uns leiden lassen und dann, dann habt ihr uns vergessen. Habt euch eure Unterhaltung woanders geholt. Zu Hause vor der Glotze, auf euren Sofas mit Schonbezug“.

So fügt sich das Buch bestens zu Winklers viel beachtetem Debüt „Hool“ (2016), indem es sich erneut eines randständigen Milieus annimmt und eine Parallelgesellschaft feiert, deren Abgesang mit erheblichem, mitunter grenzwertigem Pathos orchestriert wird. Doch das Lamento über den Niedergang der alten Jahrmarktkultur mit all ihren archaischen Spektakeln – Damen ohne Unterleib, kleinwüchsige oder gigantonomisch dickleibige Menschen, exotische Tiere und so weiter – ist unzeitgemäß. Die Ablösung dieser fragwürdigen Sensationen durch Hightech-Fahrgeschäfte ist ihrerseits schon lange historisch – und ausnahmsweise nicht dem Internet anzulasten.

Freilich geht es Winkler gar nicht um solche Profanitäten: „Carnival“ ist inspiriert von einem Zeitungsartikel über die verschwindende Sprache der Carnies, der nordamerikanischen Schausteller, und entsprechend auch primär an Sprache interessiert. So erbaut sich Winkler eine weder zeitlich noch topografisch festlegbare Wunderwelt. In der erfundenen Kunstsprache „Kzirms“ skizziert er „Steife Jonnys“, „Rittjocks“ und „Erstmaier“, die abenteuerlichen „Kirmser“ und ihr „hartes, schnelles Leben“: „Lanzo, der alte Raufbold und Knastbruder“, „Becky Lynn und ihr beschränkter Bruder Pazuzu“ oder Cevenna. Die „jonglierte bereits mit Messer, Gabel und Löffel, bevor sie lernte, damit zu essen“.

Ihnen allen ist der Rummel ein „Hafen der Gestrandeten und Fehlgeleiteten“, in dem sie vor der „Welt da draußen“ und vor sich selbst geschützt sind, den sie am Ende aber aufzugeben gezwungen werden.

Doch auch dieses behauptete Ende kann ja nur Fiktion sein. Denn trotz allen technischen Fortschritts, trotz aller Veränderungen im Unterhaltungsverhalten und erst recht trotz und nach Corona: das Leben geht weiter, das Karussell wird sich weiterdrehn. Thomas Schaefer

Philipp Winkler: „Carnival“. Aufbau Verlag, Berlin 2020, 119 Seiten, 14 Euro

Küchenabenteuer und Milchpulver

„In der Küche“, behauptet die Doris Dörrie, „lässt sich Kultur und Struktur einer Gesellschaft ablesen.“ Wir könnten also, schlägt die Autorin und Filmregisseurin in ihrem neuen Buch „Die Welt auf dem Teller ­– Inspirationen aus der Küche“ vor, unseren Thermomix befragen, was es bedeutet, dass eine Vielzahl von uns der Veränderung vom Rohen zum Gekochten heute nicht mehr selbst beiwohnt, sondern sie einer Art Künstlichen Intelligenz übergibt: ein weiterer Sublimierungsprozess der Zivilgesellschaft oder radikaler Kulturverlust?

Anhand von Kindheitserinnerungen, Küchenabenteuern und kulinarischen Entdeckungen komponiert Dörrie episodenhaft ein Lesevergnügen (die im Buch abgedruckten Kolumnen wurden zuerst in der Zeitschrift Essen & Trinken veröffentlicht), das illustriert, wie alles mit allem zusammenhängt und Dinge, die früher einmal einfach gewesen waren – Essen und Trinken – heute hochgradig komplexe, komplizierte Angelegenheiten geworden sind.

Wenn Doris Dörrie über Essen schreibt, sinniert sie über die Welt: Sie erzählt von Brotkrusten, Beleuchterbrotzeiten, japanischen Aspirin (Japan hat es ihr ja sowieso angetan), Melonen-Momenten oder dem Anarchisten Augustin Souchy, für den sie einmal einen Brief an Fidel Castro verfasste, in dem er den Preis für Orangen auf Kuba diskutierte.

Wer sich über sein Essen Gedanken macht oder Dörries Buch liest, um eigene Erinnerungs-oder Assoziationsketten in Gang zu setzen, lernt etwas über die Welt, in der wir leben, und über sich selbst: wieso rührt einen die Erinnerung an die (typisch bayerische) „suetschendätschi“ der eigenen Mutter 30 Jahre später zu bitteren Tränen? Warum horten Menschen in Krisenzeiten vermehrt Mehl und Hefe? Was hat der mexikanische Drogenhandel mit Avocados zu tun? Wieviel Liter Wasser benötigt ein Kilo Rindfleisch? (16.000) Und ein Kilo Kaffee? (19.000) Und wie kann, in Anbetracht dieser Zahlen, ein Mensch, der versucht, den Planeten mit seiner Existenz nicht stärker zu belasten als notwendigerweise nötig, belächelt, oder, schlimmer, ignoriert werden in seiner Forderung nach Taten in Form von Gesetzen?

„Vor dreißig Jahren“, schreibt Doris Dörrie, „gab eine Kuh etwa 2.800 Liter Milch im Jahr, jetzt sind es durchschnittlich fast 10.000.“ Heute hielten Landwirte ihre Kühe in Dauerschwangerschaft (nur eine Kuh, die kalbt, gibt Milch), damit sie genügend Milch produzierten, und exportierten jene Milch anschließend als Milchpulver, was wiederum die Milchwirtschaft in anderen Ländern ruinierte.

„Warum also“, fragt sich die Autorin, „fällt es mir so schwer, radikal umzusetzen, was ich doch eigentlich begriffen habe?“ Eine Frage, die wir uns in unterschiedlicher Form zu unterschiedlichen Zeiten wohl alle schon mal gestellt haben: Wieso esse ich noch Fleisch oder Ei oder Fisch, warum trinke ich Milch, warum kaufe ich diese oder jene Marke, wo ich doch weiß um die realen Bedingungen der Fleischerzeugung, des Fischfangs, in Mastbetrieben, in ausgebeuteten Ländern?

Möglicherweise weil der Mensch, wie Orwell es ausdrückte, gut sein will, im Großen und Ganzen, „aber nicht allzu sehr und auch nicht immer“. Marielle Kreienborg

Doris Dörrie: „Die Welt auf dem Teller“. Diogenes Verlag, Zürich 2020, 208 Seiten, 22 Euro

Wie die Neue Rechte Geschichte umdeutet

Wenn es um Erfolg und Strategie der AfD geht, wird meist über ihre rassistische, muslim- und flüchtlingsfeindliche Ideologie gesprochen, möglicherweise noch über Sexismus. Viel zu wenig aber wird beleuchtet, welche Rolle die Geschichtspolitik für die AfD und auch für andere radikal rechten Parteien in Europa spielt. Dabei ist die Umdeutung der Geschichte zentraler Baustein in der Strategie der Neuen Rechten. Dieses Themas hat sich jetzt ein schmales Buch angenommen, das die Historikerin Claudia C. Gatzka und der Politikwissenschaftler Andreas Audretsch herausgegeben haben.

Darin werfen sie und die anderen Autor:innen zunächst einen Blick auf drei konkrete Beispiele nationaler Geschichtsumdeutungen: wie die AfD versucht, den Nationalsozialismus auszublenden und 1968 zum eigentlichen Kulturbruch zu erklären. Wie die Lega in Italien sich bemüht, den 25. April, den Tag der Befreiung vom Faschismus und der deutschen Besatzung, umzudeuten. Und wie Fidesz in Ungarn sich den Aufstand von 1956 aneignen will.

In einem zweiten Teil werden dann die Themen Frauenrechte, Demokratie, Religion und die Coronapandemie als zentrale Themen rechter Geschichtsumdeutung analysiert. Das ist nicht immer neu, aber durchaus lesenswert.

Das Ende bildet ein Aufruf, den die Historikerin Hedwig Richter und Paul Jürgensen, der bei dem Berliner Think Tank „Progressives Zentrum“, arbeitet, verfasst haben. Sie appellieren an Politik und Zivilgesellschaft, aber auch an die Geschichtswissenschaft selbst, mehr Verantwortung zu übernehmen. Das Buch ist Analyse und Aufruf zugleich: Dafür, sich dem Missbrauch der Geschichte entgegenzustellen. Sabine am Orde

Andreas Audretsch/Claudia C. Gatzka (Hg.): „Schleichend an die Macht. Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert, um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erlangen“. Dietz Verlag, Berlin 2020, 140 S., 14,90 Euro

Die Reservearmee ist noch nicht Geschichte

Die Journalistin Anna Mayr fragt in ihrem Buch „Die Elenden“, warum eine Gesellschaft Armut braucht. Ihre Antwort lautet: „Der Kapitalismus braucht den Arbeitslosen als Ressource. Die Bourgeoisie braucht die Ideologien über den Arbeitslosen, die Klischees, die RTL-Nachmittagssendungen, um sich ihrer selbst zu versichern. Der Arbeitslose bestätigt den Sinn der Arbeit.“

Mayr beschreibt anschaulich und gut lesbar, wie Arbeitslose in allen gesellschaftlichen Bereichen ausgegrenzt werden und welche körperlichen, ökonomischen und kulturellen Nachteile für sie daraus entstehen. Dabei lässt sich auch ihre eigenen Erfahrungen als Kind einer „armen Familie“ einfließen und vergisst dabei nie – im Gegensatz zu eher darstellenden Büchern wie Christian Barons „Ein Mann seiner Klasse“ – die Betonung der gesellschaftlichen Notwendigkeit von Armut und Arbeitslosigkeit.

Wer sich bei diesem Gedanken an Karl Marx erinnert, hat recht. Bereits 1867 schrieb dieser im „Kapital“: „Die Überarbeit des beschäftigten Teils der Arbeiterklasse schwellt die Reihen ihrer Reserve, während umgekehrt der vermehrte Druck, den die letztere durch ihre Konkurrenz auf die erstere ausübt, diese zur Überarbeit und Unterwerfung unter die Diktate des Kapitals zwingt.“ Mayr erwähnt dies jedoch nicht. Dieses über 150 Jahre alte Wissen von der „industriellen Reservearmee“ hätte Mayrs aufrührendem und thesenstarkem Buch nicht geschadet und ihm nichts von seiner Bedeutung und Aktualität genommen. Christopher Wimmer

Anna Mayr: „Die Elenden“. Hanser Verlag, Berlin 2020, 208 S., 20 Euro

Menschen und Hunde und ihre Gefühle

An Büchern über Hunde ist kein Mangel. Nun hat der renommierte Münchner Evolutionsforscher Josef Reichholf auch ein Buch über Hunde veröffentlicht: „Der Hund und sein Mensch. Wie der Wolf sich und uns domestizierte“.

Die Selbstdomestizierung der Wölfe, die sich nach zigtausend Jahren in Hunde und Wölfe teilten, genetisch unterschieden, das zu beweisen, auch gegen die anderen Theorien und rührenden Ursprungsmythen: wie der Mensch auf den Hund kam oder umgekehrt – das macht den Hauptteil des Hundebuches von Reichholf aus, aber diese evolutionäre, objektivistische Sicht wird von ihm mit eigener Erfahrung angereichert, wie auch schon in seinem Rabenbuch (2009) und zuletzt in seinem Eichhörnchen-Buch (2019).

Es ist fast ein Strickmuster. Man hat den Münchner Wissenschaftler dafür zur Ordnung gerufen: Anekdoten sind pfui! In seinem Hundebuch nun verteidigt er sich gegen die Kritik des „zu viel an persönlicher Anteilnahme“. Diese besteht darin, dass Reichholf gleich zu Beginn erinnerungsmächtig, aber von Verhaltensforschung geprägt über seine erste Hundeerfahrung erzählt, da war er noch ein Kind.

Gegen Schluss folgt noch eine lange Geschichte über den letzten Hund, den seine Frau und er besaßen. Seine Frau, Miki Samamoto, hatte zuvor in ihrem Buch „Eintauchen in den Wald“ (2019) von den Spaziergängen mit dem Hund erzählt. Im Hundebuch schreibt Reichholf: „der alte Einwand, wir dürften einem Tier nicht die Gefühle eines Menschen unterstellen, zieht nicht mehr.“

Dabei ist er durchaus vorsichtig bei seinen Deutungen der Lebensäußerungen von zwei Hunden, die er näher kennenlernen konnte und die wesentlich mit dazu beitrugen, dass er heute sagen kann: „Wir sind auf dem Weg, empathisch(er) zu werden, jedoch noch lange nicht am Ziel.“ Darum geht es im Hundebuch. Helmut Höge

Josef H. Reichholf: „Der Hund und sein Mensch“. Hanser Verlag, München 2020, 224 S., 22 Euro

Und jetzt ein Sturm auf die Schlachthäuser

Wenn sich die moralische Integrität einer Gesellschaft im Umgang mit den Schwächsten offenbart, dann ist es nach Meinung Corine Pelluchons derzeit nicht allzu gut um unser Gewissen bestellt. Denn wie kann eine humanistisch gesinnte Wertegesellschaft derart grausame Praktiken in Schlachthäusern und Tierfabriken tolerieren, wie wir sie verstärkt in den Medien wahrnehmen?

Für die Philosophin Pelluchon steht fest, dass wir zu lange weggesehen und sich in unserem Umgang mit den Tieren alte Formen der Sklaverei erneut bemerkbar gemacht haben. „Obwohl diese Gewalttaten nicht dieselben Ursachen haben und nicht dieselben Lebewesen treffen, haben sie doch eines gemeinsam: Sie verraten einen […] hemmungslosen Mangel an Achtung vor dem Leben.“ Solcherlei Feststellungen mögen manch einem radikal anmuten, falsch sind sie jedoch nicht. Wie zahlreiche Tierethiker der vergangenen Dekaden – von Donna Harraway bis hin zu Friederike Schmitz – betonen, lässt sich die lange Zeit behauptete strikte Grenzziehung zwischen Humanum und Animalum so kaum noch aufrechterhalten, zumal wir doch den sogenannten Nutztieren in unseren Bedürfnissen nach Freiheit und Empathie näher sind, als wir glauben.

Was also tun? Vor der fernen Vision einer tierleidfreien Kultur versprechen aus Sicht Pelluchons auch kleine Schritte Erfolg. Verbote von unnötigen Gewaltexzessen, etwa bei „Hetzjagden“, empfindlichere Strafen bei Verstößen gegen Tierschutzgesetze sowie eine bessere Sensibilisierung über die Bedürfnisse unserer vierbeinigen Gefährten in Schulen sowie der Ermittlungsbehörden sind sinnvoll – all dies bietet die Grundlage für eine Systemrevolution. Zuspitzung und Verve prägen das „Manifest für die Tiere“, das wie alle Tierrechtstheorien Kontroversen hervorrufen dürfte. Aber anders wäre es auch keine so dringend nötige Utopie.

Björn Hayer

Corine Pelluchon: „Manifest für die Tiere“. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. C.H. Beck Verlag, München 2020, 125 S., 12 Euro