Abenteuer Denken

Ijoma Mangolds Tagebuch gegen unsere wirre Welt

Ijoma Mangold: „Der innere Stammtisch“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020, 272 Seiten, 22 Euro

Von Tom Wohlfarth

Einer der Hauptprotagonisten der populärpolitologischen Debatten der letzten Jahre dürfte etwas gewesen sein, das es in traditioneller Form immer weniger gibt: der Stammtisch. Aus den verlassenen Eckkneipen und verwaisten Vereinsheimen abgewandert in die sozialen Medien, wurde dort ungefiltert für ein Millionenpublikum verstärkt, was einst nur für einen kleinen Tisch gedacht war. Der Journalist Ijoma Mangold hat diese Bewegung umgedreht und daraus – nur ein bisschen paradoxerweise – ein Buch gemacht. In „Der innere Stammtisch“ versucht er, in Form eines „politischen Tagebuchs“ seine ersten emotionalen Reaktionen auf politische Ereignisse festzuhalten, aber nicht um sie in dieser Form die Welt am Rad drehen zu lassen, sondern um diese affektiven Reflexe in einem inneren Selbstgespräch zu reflektieren und auseinanderzunehmen.

Das beginnt im September 2019 mit dem schon etwas kleinlauten Spott über Greta Thunberg und endet im April 2020 mit der Einsicht, die Gefahr von Covid-19 wohl doch etwas vorschnell abgetan zu haben. Nicht fehlen darf natürlich der Mann, der Mangolds Lebensprinzip Trotz den vorübergehenden Todesstoß gab: Donald Trump. Gehörte es einmal zu Mangolds größten Freuden, Abendgesellschaften mit unwohl temperierten Anti-Mainstream-Manövern in Verwirrung zu stürzen, geriet er durch den Wahlsieg Trumps 2016 selbst in die für unsere Zeit so bezeichnende Stimmung, auf nichts weniger Bock zu haben „als auf jemanden, der die Lage anders sah als ich selbst“.

Doch selbst in dieser misslichen Lage findet er seinen Meister in einem noch größeren Trotzkopf, dem israelisch-amerikanischen Kollegen Tuvia Tenenbom, der ihm damals zu einer fundamentalen Einsicht verhalf: „War das nicht tatsächlich das Beste, was einem Intellektuellen widerfahren konnte: die Welt nicht mehr zu verstehen? Weil man nur dann genötigt ist, noch einmal ganz von vorne zu denken.“

Auf dieses intellektuelle Abenteuer begibt Mangold sich mit erfrischender Konsequenz und analytischer Schärfe. Ob in der Kritik des Fremdschämens (das letztlich nur die gute alte Herablassung moralisch zu veredeln versuche), dem Lob der Heuchelei (als einer zivilisierenden Disziplin der Affekte) oder der genüsslichen Selbstgeißelung (etwa als konservativer Angeklagter im Wachtraum eines postrevolutionären linken Schauprozesses), stets wird man aufs Anregendste und Unterhaltsamste gedanklich herausgefordert durch diese heiteren Exerzitien eines konservativen Liberalen, der seiner linksliberalen Blase liebevoll und selbstironisch den Zerrspiegel vorhält und sie zur Ambiguitätstoleranz ermuntert.

Mangold erweist dadurch im Handumdrehen das Tagebuch, diesen ganz traditionellen inneren Stammtisch, als das eindeutig bessere, zumindest an bleibenden Einsichten weitaus reichere Twitter.