: First we take Berlin
Hari Kunzrus aktueller Roman „Red Pill“, der mit der Wahlnacht endet, in der Donald Trump triumphiert, erscheint jetzt kurz vor dessen möglicher Wiederwahl. Man sollte ihn noch vor dem 3. November unbedingt lesen
Von Martin Conrads
Ob es Zufall ist, dass der „arme Poet“ auf Carl Spitzwegs gleichnamigem Bild mit der rechten Hand ein „White Power“-Zeichen formt – und nicht etwa einen Floh zerdrückt, wie die Kunstgeschichte lange dachte? Immerhin handelt es sich bei dem 1839 entstandenen Gemälde um eines der Lieblingsbilder Adolf Hitlers. Zumindest Letzteres hätte der namenlose Erzähler in Hari Kunzrus bisher nur in englischer Sprache erschienenem neuen Roman „Red Pill“ wissen können, bevor er sich im Winter 2015 zu einem dreimonatigen Arbeitsaufenthalt ins „Deuter Center for Social and Cultural Research“ begibt, einer scheinbar prestigereichen Institution für Forschungsaufenthalte internationaler Stipendiat*innen in einer Villa am Berliner Wannsee.
Denn dass sich der Erzähler – wie Kunzru New Yorker Autor britisch-indischer Herkunft – den Aufenthalt bei seiner Ankunft ausgerechnet wie die biedermeierliche Welt des Spitzweg-Poeten ausmalt, wird ihm in einer Umgebung voll neuer radikaler Zeichen zum Verhängnis. Ihm, dem romantisch veranlagten, liberalen Postmodernen, dem humanistisch geschulten, aufgeklärten Gutmenschen, erscheint unvorbereitet die Alt-Right-Fratze des Faschismus, und dies ausgerechnet in einem Berliner Stadtteil, dessen historisches Gewicht durch eine andere, unübersehbar über den See hinweg gelegene Villa definiert ist.
Der Erzähler (er-)kennt also weder das Mem im Spitzweg, noch kann er den „schlafäugigen Frosch“ auf dem T-Shirt des IT-Technikers identifizieren, der für den Hausausweis seine Iris scannt. Auch die Biografie des Gründers der auf Exzellenz setzenden und für den Stipendiaten unannehmbar rigide geleiteten Institution – ehemaliger Wehrmachtsoffizier, dann Christdemokrat und Patron des Wirtschaftswunders, schließlich an den Folgen eines RAF-Attentats verstorben – scheint ihm zunächst nur typisch für eine normale deutsche Welt, in der Leute „Ulrich oder Uwe“ oder „Frau Janowitz“ heißen. Der Umstand, dass „Herr Deuter“ in seiner Eigenschaft als Chemiker auch das „Deuter Weiß“ erfand, ein Wandfarbenpigment, das – ganz BRD Noir – wieder Licht ins Dunkel der westdeutschen Nachkriegshaushalte bringen sollte, wird für den Erzähler erst später zur Offenbarung: Im Keller der Villa stellt sich heraus, dass diese ab 1936 als „Institut für Nordforschung“ fungierte und das Farbpigment nichts anderes ist als eine Gestaltung gewordene Vision von Whiteness, Rassismus und einer in eine „inhumane Zukunft“ mündenden „nordischen“ Ideologie, die in der Gegenwart von einem Regisseur namens Anton auf medial tausendfachen Plateaus subtil multipliziert wird. Den von ihm gelangweilt und siegessicher als „Kulturmarxisten“ verlachten Erzähler wird Anton bald vor sich her- und in einen Wahnsinn Kleist’scher Dimension treiben. Anton wird schnell zu Anon, zur anonymen faschistischen Netzmultitude.
So comichaft das klingt – was Kunzru hier durch die bewusst unbedarfte Perspektive seines Erzählers nachvollziehbar notwendig aufs Spiel setzt, ist die (um 2016) in Alt-Right-Ahnungslosigkeit versunkene unbekümmerte Selbstgewissheit des (US-)Linksliberalismus. Kunzrus Geschichte sondiert dabei das politische Terrain nach vielen Seiten: Man liest eine sarkastische Beschreibung der „Friedensgala“ zur Berlinale 2016, bei der sich im von Ai Weiwei mit Rettungswesten verkünstelten Konzerthaus Promis aalglatt Rettungsdecken überzogen, man liest über eine Begegnung mit dem einst in die Fänge der Stasi geratenen Ostpunk Monika oder nimmt an des Erzählers nächtlichen Netzrecherche-Orgien down the rabbit hole auf rechten Webseiten teil. Die Beschreibungen der in Berlin handelnden Szenen sind dabei detail- und kenntnisreich: Kunzru selbst war in jenem Winter am Wannsee Stipendiat – in der American Academy.
Im letzten Kapitel zeigt sich das wahre Ausmaß der von An(t)on produzierten faschistischen „meme magic“ und der vom Erzähler durchlittenen politischen Paranoia: Es ist November 2016, Wahlnacht, der Erzähler, wieder in New York, sitzt mit seiner für die Clinton-Kampagne arbeitenden Frau vor dem Fernseher. Doch die Wahlparty verwandelt sich in dem Moment in die Poe’sche „Maske des Roten Todes“, als Donald Trump gewinnt, ein Mann „wie ein Portal, durch das allen Arten von Monstern ins Wohnzimmer eintreten können“. Dass „Red Pill“ nun wenige Wochen vor der nächsten US-Wahl erschienen ist, macht Kunzrus fesselnden Roman zu einem der Bücher, die man bis zum 3. November unbedingt gelesen haben sollte.
Hari Kunzru: „Red Pill“. Auf Englisch. Scribner (UK), Alfred A. Knopf (USA), 2020
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