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: Schreiben mit Trotz

In der Schulbibliothek, die ich als Drittjob übernommen habe, arbeiten eine Schülerin und ein Schüler im Rahmen einer Lernwerkstatt zum Thema Geld an einem Vortrag über Einkünfte von Künstler*innen. Der Schüler meint: „Wir müssen noch die Auswirkungen von Corona reinnehmen.“ Die Schülerin klappt ihren Laptop auf: „Wir haben erst eine Antwort auf unsere Interviewfragen.“ Die beiden vertiefen sich in eine Statistik. Er meint: „Hiernach können nur fünf Prozent allein von ihrer Kunst leben.“ Die Schülerin sieht fragend zu mir. Ich meine: „Die Zahlen kenne ich nicht. Aber durch Corona hat sich die ohnehin prekäre Situation der meisten Künstler*innen stark verschärft. Die Soforthilfen der Länder kamen nur wenigen zugute, da sie nicht zur Kompensation wegfallender Einnahmen genutzt werden durften, sondern an Betriebsausgaben wie Ladenmieten gekoppelt waren.“ Die Schülerin runzelt die Stirn. Ich merke: Ich habe sie überfordert und sage: „Das werden eure Interviewpartner*innen sicher alles erzählen.“

Während sich die beiden neben mir an die Arbeit machen, muss ich an Annett Gröschner denken. Wenige Wochen vor dem Lockdown habe ich die Autorin für ein Stadtmagazin interviewt. Die Themen waren vorgegeben. Darunter: ihr „Finanzierungsmodell“. Ich hatte mich sehr über die Anfrage gefreut. Annett Gröschner war meine Dozentin. Durch sie habe ich journalistisches Schreiben für mich entdeckt. Durch sie hätte ich auch gewarnt sein können, worauf ich mich damit einlasse: Zu Beginn eines Einführungsseminars in den Kulturjournalismus erklärte sie lapidar, es sei verrückt, dass es das Seminar in Zeiten, in denen Kulturjournalismus eine brotlose Kunst geworden sei, überhaupt gebe.

Als ich sie im Februar traf, befand ich mich in einer Sinnkrise. Ich haderte damit, dass ich neben meinen Brotjobs und meiner Tochter höchstens in den Nächten zum Schreiben kam. Insgeheim erhoffte ich mir von dem Gespräch mit ihr eine Antwort, wie es zu schaffen ist, trotz aller Widrigkeiten mit dem Schreiben weiterzukommen. Die Begegnung mit ihr war sehr inspirierend: Wir flanierten durch ihren langjährigen Kiez im Prenzlauer Berg und sie erzählte von ihren literarischen Vorbildern, „allesamt Selbstmörderinnen“, und ihrer Stasi-Akte, in der ihre ersten, von ihr entsorgten Gedichte wieder auftauchten.

Eine Antwort auf meine persönliche Frage bekam ich auch: Trotz aller Widrigkeiten am Schreiben festzuhalten, gelingt durch Trotz. Und die Fähigkeit, über sich selbst lachen zu können. Während des Gesprächs wurde mir klar, dass selbst Annett Gröschner, die 2019 für ihre schriftstellerische Arbeit den Landesverdienstorden der Stadt Berlin erhalten hat, neben diversen Brotjobs nur auf Kosten ihres Schlafs zum Schreiben kommt. Im Interview bezeichnete sie sich selbst als „ökonomische Wanderhure“.

In der Pause meint die Schülerin zu mir: „Wie traurig, dass nur so wenige von ihrer Kunst leben können.“ Ich verkneife mir, ihr von Annett Gröschner zu erzählen. Oder von Künstlerfreunden, die wegen Corona durch wegbrechende Theateraufführungen, Ausstellungen und Konzerte mangels Rücklagen auf Grundsicherung angewiesen sind. Die Schülerin hat während des Lockdowns einen Roman beendet, hofft auf eine Veröffentlichung und möchte einmal vom Schreiben leben. Vielleicht gehört sie ja eines Tages zu den wenigen, denen das gelingt. Talent hat sie. Und Corona wird bis dahin sicher beherrschbar sein. Eva-Lena Lörzer