: Von der Leistung zur Gewährleistung
Deutschland verwandelt sich vom Wohlfahrtsstaat in einen Gewährleistungsstaat. In zuschussbedürftigen Bereichen wie dem öffentlichen Nahverkehr geht die Reformierung nur zäh voran. Transparente marktwirtschaftliche Strukturen gibt es dort kaum
■ Jahrgang 1969, ist Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik am Wissenschaftszentrum Berlin. Ihre Promotion schrieb die Sozialwissenschaftlerin über den „Öffentlichen Verkehr im Gewährleistungsstaat“. Ihr aktuelles Forschungsprojekt untersucht demografische und wirtschaftsstrukturelle Auswirkungen auf die Mobilität der Gesellschaft.
VON ASTRID KARL
Der deutsche Sozialstaat stand einstmals geradezu sinnbildlich für wohlgeordnete und sichere Lebensbedingungen, die der Staat geschaffen hatte. Das Land erlebte in den 1960er-Jahren eine Phase der Vollbeschäftigung; Bildung für alle galt als durchgesetzt; Lebensrisiken wie Alter und Krankheit waren auf hohem Niveau abgesichert; kommunale Versorger sicherten die zuverlässige Lieferung von Strom, Wasser und Gas, die Kommunen unterhielten Schwimmbäder, Theater, und Bibliotheken; Staatsunternehmen erbrachten flächendeckende Verkehrs-, Post- und Telekommunikationsdienstleistungen, staatliche Verwaltungen überwachten den Ausbau der Straßen.
Die Gegenwartsgesellschaft ist weniger gesichert und unübersichtlicher. Wichtige Dienstleistungen werden längst nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich vom Staat erbracht: Die großen Staatsunternehmen Bundespost und Bundesbahn wurden privatisiert. Die Deutsche Telekom AG und die Deutsche Post AG gehören dem Staat nur noch zu 30 Prozent. Bei der Deutschen Bahn AG sähe es ähnlich aus, wäre ihr Börsengang nicht an der Finanzkrise gescheitert. Kommunen machen Schlagzeilen mit dem Verkauf von Energieunternehmen, Versorgungsunternehmen oder Wohnungsbaugesellschaften.
Ein Versuch, diese Änderungen zu erfassen, ist ihre Deutung als Wandel vom Wohlfahrtsstaat zum Gewährleistungsstaat. Der Ausdruck „Gewährleistungsstaat“ ist ein sehr sperriger Begriff aus der Verwaltungs- und Rechtswissenschaft und findet als Gegenstück zu Begriffen wie „Wohlfahrtsstaat“, „Leistungsstaat“ oder „Erfüllungsstaat“ Verwendung. Der Gewährleistungsstaat erbringt wichtige Leistungen für seine Einwohner nicht mehr unbedingt selbst, sondern sorgt mit unterschiedlichen Instrumenten dafür, dass die Leistungen erbracht werden. Sie können bei privaten Anbietern eingekauft werden.
Das Konzept des Gewährleistungsstaates reagiert auf die zunehmende Privatisierung öffentlicher Unternehmen oder die Liberalisierung von staatlich regulierten Wirtschaftsbereichen. Ehemals (staats-)monopolistisch organisierte Bereiche wie etwa die Energiewirtschaft oder die Telekommunikation wurden für den Wettbewerb geöffnet. Dies geschah vor dem Hintergrund neoliberaler Forderungen nach einem Rückzug des Staates aus der Wirtschaftsbeteiligung mit eigenen Unternehmen beziehungsweise nach Rücknahme von restriktiven Einschränkungen des Wirtschaftslebens. Hinzu kamen Vorgaben der Europäischen Gemeinschaft, die den gemeinsamen Markt auch für Bereiche der früher abgeschotteten Staatswirtschaft verwirklichen will: Europäische Verordnungen schreiben den Mitgliedern vor, Wettbewerbsbeschränkungen abzubauen. Wettbewerbliche Vergabeverfahren sollen für alle europäischen Unternehmen gleichberechtigt geöffnet werden.
Die Bewertung dieses tiefgreifenden Wandels ist umstritten. Die Kritiker des Leistungsstaats schätzen die durch die vielfältigen Wettbewerbsbeschränkungen verursachten Kosten höher ein als den dadurch erzielten Nutzen. Sie beklagen die kostentreibenden Strukturen der Behörden, die Innovationsfeindlichkeit von Staatsunternehmen und deren fehlende Anpassungsfähigkeit bei Nachfrageveränderungen. Die Befürworter des Leistungsstaats berufen sich auf die staatliche Verpflichtung zur Sicherung der menschlichen Lebensgrundlagen in modernen, arbeitsteiligen Gesellschaften. Zur sogenannten Daseinsvorsorge zählen der Zugang zu Energie und Wasser sowie Mobilität und Infrastruktur wie auch die gesicherte Entsorgung von Abwasser und Müll.
Auch der Personen- und der Güterverkehr waren früher – als Teil der Daseinsvorsorge – umfassenden Regulierungen unterworfen: Der Schienenverkehr war verstaatlicht. Der staatliche Auftrag des Staatsunternehmens Bundesbahn war die flächendeckende Versorgung des Landes im Schienenverkehr. Deshalb mussten auch unrentable Strecken aufrechterhalten werden, Preise und Tarife wurden staatlich festgelegt. Im Güterverkehr mussten für den Transport in abgelegene Regionen die gleichen Tarife angeboten werden. Auch der Lkw-Verkehr war in das System von Vorgaben und Einschränkungen eingebunden: Es wurde nur eine begrenzte Zahl an Spediteuren zugelassen, die die Tarife der Bahn nicht unterbieten durften. In den Städten fuhren die Busse und Bahnen der kommunalen Unternehmen, deren Liniengenehmigungen regelmäßig verlängert wurden.
Das Konzept des Gewährleistungsstaates betont die vielfältigen Alternativen zu diesem früheren Ideal der wettbewerbsfreien Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch öffentliche Unternehmen: Im Gewährleistungsstaat reicht es aus, wenn der Staat für einen Bereich verbindliche Rahmenbedingungen und Mindeststandards festlegt und private Unternehmen die Leistungen produzieren. Zur Sicherung des Wettbewerbs und der Einhaltung der Vorgaben kann eine Regulierungsbehörde eingesetzt werden.
Beim öffentlichen Verkehr zeigt sich der Übergang zum Gewährleistungsstaat in der formalen Privatisierung der Bahn, in der Öffnung des Schienennetzes für Dritte und in der angestoßenen Liberalisierung des Nahverkehrs. Letztere berührt nicht den öffentlichen Anspruch, den Nahverkehr als Daseinsvorsorge zu gewährleisten: Die Bundesländer sorgen nun in eigener Regie für das regionale Bahnangebot, wofür sie mit den nötigen Geldern, den sogenannten Regionalisierungsmitteln, ausgestattet werden. Kommunale Aufgabenträger können mit privaten oder öffentlichen Unternehmen Verträge über lokale Busleistungen schließen.
Am Beispiel des öffentlichen Verkehrs zeigt sich aber auch, dass wir noch längst nicht im Gewährleistungsstaat angekommen sind. Die Monopolstellung der bundeseigenen Deutschen Bahn AG und der kommunalen Verkehrsunternehmen ist ungebrochen. Die kommunalen Verkehrsunternehmen werden meist ohne Ausschreibung der Verkehrsleistungen direkt von den städtischen Aufgabenträgern beauftragt.
Diese Situation ist vor allem der Verteidigung des Status quo durch die Kommunen geschuldet: Die meist kommunalen Verkehrsunternehmen hätten nur mit strikten Rationalisierungsmaßnahmen Chancen, im Ausschreibungswettbewerb zu überleben. Zudem gibt es bisher kaum praktische Handreichungen für Kommunen, die eine tatsächliche Rücknahme der staatlichen Eigenerbringung anstreben: Nach einem Verkauf des kommunalen Verkehrsunternehmens müssen Umfang und Qualität des Bus- und Bahnverkehrs durch Verträge gesichert werden. Die erforderlichen Verkehrsverträge und Verfahren werden sehr schnell sehr komplex, und das für die Durchführung von Vergabeverfahren und die anschließende Vertragskontrolle nötige Know-how muss in den Kommunalverwaltungen erst aufgebaut werden.
In solchen Fällen ist der Umbau zum Gewährleistungsstaat keineswegs mit ersichtlichen und politisch vermittelbaren Vorteilen verbunden. Überhaupt begegnet man in der Praxis immer noch der Meinung, dass nur öffentliche Betreiber eine angemessene Versorgung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen sichern können. Wenn auch vereinzelt gewährleistungsstaatliche Modelle auf lokaler und regionaler Ebene funktionieren, so gilt insgesamt für den Bereich des öffentlichen Verkehrs in Deutschland, dass transparente marktwirtschaftliche Strukturen entsprechend dem gewährleistungsstaatlichen Ideal bislang nicht durchgesetzt wurden.
Das Modell des Gewährleistungsstaats trägt zur systematischen Überprüfung der bisherigen Organisation von Staatlichkeit bei. Es bietet die oben beschriebene Umdeutung der Daseinsvorsorge an, ohne dabei den staatlichen Einfluss vollständig aufgeben zu wollen. Dadurch kann das Modell auch als Korrektur von teilweise naiven Vorstellungen staatlichen Rückzugs verstanden werden. Als Manko bleibt, dass die aufgezeigten Alternativen der Staatsorganisation ihre Plausibilität zum Teil nur auf einer sehr abstrakten Ebene erlangen. Privatisierungs- und Liberalisierungsgegner lassen sich so nicht überzeugen.
In gewinnträchtigen Bereichen wie etwa der Telekommunikation scheinen gewährleistungsstaatliche Lösungen prinzipiell zu funktionieren. Dagegen stoßen solche Lösungsansätze in stark zuschussbedürftigen Bereichen wie dem öffentlichen Nahverkehr auf erhebliche Umsetzungsprobleme: Die Herstellung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen erweist sich als extrem aufwändig und langwierig, zudem scheint der Staatseinfluss in diesem Prozess eher zu- als abzunehmen. Die Reform des Nahverkehrsrechts hat zu einer komplexen und zudem widersprüchlichen Rechtslage geführt, juristische Auseinandersetzungen sind an der Tagesordnung. Die eigentliche Aufgabe einer effizienten Organisation der Bus- und Bahnverkehre tritt in den Hintergrund. Das Konzept des Gewährleistungsstaats vermag diese spezielle Konstellation bisher kaum zu erfassen, geschweige denn, Lösungen dafür aufzuzeigen.
■ Nächsten Mittwoch: Rainer Forst über den modernen Staat als Rechtfertigungsordnung
■ Bisher erschienen: Harald Welzer: „Die Kultur der Achtsamkeit“ (5. 9.), Saskia Sassen: „Die Bändigung des Staates“ (9. 9.), Norbert Bolz: „Die Stärken der Selbstbegrenzung“ (12. 9.), Wolfgang Sofsky: „Die Entbehrlichkeit des Staates“ (16. 9.), Günter Dux: „Die neue Hoheit des Staates“ (19. 9.), Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Freiheit ist ansteckend“ (22. 9.), Paul Nolte: „Weniger Staat, mehr Demokratie“ (26. 9.). www.taz.de/wahl09