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: CO2 ist aus?

Es war seit März bei mir, es lag seit Beginn des pandemischen Zeitalters auf meinem Fensterbrett, es hat mich begleitet, beruhigt und amüsiert, wenn ich es da liegen sah. Wie diese weichgezeichnete Seerose auf dem Cover aus diesen rosa Schlieren auftauchte. Wie diese verschlungene Schreibschrift schöntat. Wie es der Sprecher auf der hinten eingeklebten CD mit der Sanftheit in der Stimme übertrieb.

Aber ich habe die Rosinenübung gemacht mit diesem Achtsamkeitstraining, habe mich hingesetzt, die Rosine betrachtet, die Rosine befühlt, sie geknetet, geschmeckt, geschluckt. Und mich eine halbe Stunde später besser gefühlt. Die AGB hatte die Abgabefrist während des Shutdowns fast bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben, danach habe ich das Buch noch dreimal verlängert. Jetzt aber muss es zurück, und ich schiebe es mit haltlosen Abschiedsgefühlen in den 24-Stunden-Rückgabeautomaten, diesem Schalter an der Außenseite, der für ein paar Wochen im Frühjahr die einzige offene Stelle der Bibliothek war.

Früher begegnete mir hier, direkt vor der Tür, morgens hin und wieder ein Fuchs. Jetzt ist hier die „Frischluftbibliothek“, Menschen mit Laptops lümmeln auf Sonnenliegen, die in auf Abstand gesprühten Kreisen stehen. Zudem wurde rund um die AGB heftig gerodet, schließlich war das Gelände laut Website „sehr verwuchert, was zu Müllansammlungen und leider auch zu erheblichem Drogenhandel und Drogenkonsum führte“. Jetzt sind alle Wucherungen entfernt, die Sicht schweift ungehindert, kein Fuchs kann sich mehr verstecken. Der Müll auf dem Blücherplatz türmt sich nach den Grill-Eskapaden des Wochenendes trotzdem noch.

Ich nehme den Pop-up-Radweg Richtung Kotti und jubiliere. Wie jedes Mal, wenn ich auf diesen großartigen neuen, gesicherten, breiten Radwegen unterwegs bin. Endlich, denke ich immer, passiert etwas in Richtung fahrradfreundlichere Stadt, in Richtung Verkehrswende, in Richtung besser. Dann den Kottbusser Damm runter, und auch hier: der Radweg ein Geschenk. Florian Weisbrich, Sie Held des Straßenamts!

Vor Karstadt schnell noch einen Blick auf die Handy-News. Das Berliner Verwaltungsgericht hat dem Eilantrag eines AfD-Abgeordneten stattgegeben: Das Gros der Pop-up-Radwege soll zurückgebaut werden, die Verwaltung habe die konkrete Gefahrenlage, die die Einrichtung temporärer Radwege erlaubte, nicht ausreichend dargelegt. Es ist wie ein Schlag mit dem Hammer auf den Kopf.

Und dann gibt’s bei Karstadt keine Staubsaugerbeutel mehr. Rasierapparate, Bluetooth-Boxen und Flachbildfernseher seien ebenfalls aus, sagt der Verkäufer. Auch wenn in China die Fabriken wieder liefen, brauche es eben vier Monate, bis die Containerschiffe mit frischer Ware da seien. Leere Regale, ein ungewohnter Anblick für mich Westsozialisierte.

Sogar die LPG hat Nachschubprobleme. Der Mensch im Gemüse, gleichzeitig für den Tausch der Sodastream-Zylinder zuständig, ruft, als er mich mit meinem leeren Sprudler-Dings kommen sieht, schon von Weitem: „Wir haben keine mehr, seit Wochen nicht, wir kriegen nichts nach!“ Warum? „Keine Ahnung, denen ist irgendwie das CO2 ausgegangen.“ Wahnsinn. Sodastream, das israelische Unternehmen unter dem Dach von PepsiCo, befüllt die Zylinder für Europa in Limburg an der Lahn. Und dort ist das CO2 ausgegangen? Liegt’s an der Klimapolitik in Hessen, der BDS-Kampagne oder am Anti-Trumpismus, an Corona, der AfD, der LPG oder am Missmanagement in der Vorstandsetage von Sodastream, vielleicht in ursächlichem Zusammenhang mit der nicht erfüllten Frauenquote? Der Mensch vom Gemüse weiß es nicht.

Ich bestelle einen Cappuccino an der Bäckereitheke. Der kommt, und Abraham, der LPG-Mitarbeiter mit den schweren Boots und dem „Thug Life“-Print auf dem Shirt, tupft mir einen Smiley in den Milchschaum. Kirsten Riesselmann