: Den Kapitalismus überwinden
„Wir sind die 99 Prozent“: Zum Tod des Wissenschaftlers und Vordenkers der Occupy-Bewegung, David Graeber
Von Ulrike Herrmann
David Graeber war ein ungewöhnlicher Wissenschaftler: Der Anthropologe war Anarchist und wollte Theorie und Praxis verbinden. Er wollte den Kapitalismus nicht nur verstehen, sondern auch überwinden.
Der New Yorker besaß ein untrügliches Gespür für relevante Themen. Er hat mehrere Mega-Bestseller geschrieben und war gleichzeitig der wohl wichtigste Vordenker der Occupy-Bewegung. Der Spruch „Wir sind die 99 Prozent“ stammte von ihm.
Graeber wurde schlagartig weltberühmt, als 2011 sein Wälzer „Schulden. Die ersten 5.000 Jahre“ erschien. Denn Graebers radikale These war, dass Schulden stets mit Gewalt einhergehen – ja, Gewalt sind. Sie seien eine Waffe, ein Instrument der Macht, der Unterdrückung.
Für Graeber war daher der Kapitalismus die höchste und die subtilste Form der Gewalt. Denn der Kapitalismus kann ohne Schulden gar nicht existieren, er wird durch Kredite angetrieben. Mit Darlehen werden Investitionen finanziert, die einen Gewinn abwerfen sollen. Aus Geld wird mehr Geld.
Graeber wollte stets „die großen Fragen“ stellen, und sein radikaler Blick war immer anregend. Trotzdem hatte sein Werk auch Lücken, eben weil er Anthropologe war. Er teilte die inhärente Annahme seines Faches, dass alle historischen Kulturäußerungen miteinander vergleichbar seien, da es ja stets Menschen sind, die handeln. Ob in Mesopotamien, im alten Rom oder im modernen London – Graeber machte überall die gleichen Gesetze aus.
Für ihn spielte es keine Rolle, ob ein antiker Tempel vor 5.000 Jahren Zinsen eintrieb – oder eine heutige Bank. Damit aber verkannte er den Kapitalismus. Graeber hatte zwar Recht, dass der Zins in der antiken Welt ein Herrschaftsinstrument war. Denn in Mesopotamien oder in Rom gab es kein Wachstum. Zinsen bedeuteten daher immer, dass Vermögen umverteilt wurde. Wer Zinsen zahlte wurde ärmer; wer sie bekam wurde reicher. Doch dieses Gesetz gilt im Kapitalismus eben nicht mehr, der den Charakter der Schulden völlig verändert hat. Indem Kredite Wachstum finanzieren, können die Zinsen mühelos aus diesen Zusatzerträgen aufgebracht werden.
Wie viele Anthropologen war Graeber Strukturalist: Er war überzeugt, dass jedes Einzelbeispiel bereits das Ganze beschreibt. Begeistert und unermüdlich sammelte er Geschichten und Anekdoten. Dies war Stärke und Schwäche zugleich. Die theoretischen Erkenntnisse waren eher mager, dafür ist es Graeber gelungen, das pralle Leben einzufangen und auf neue Themen zu stoßen. Diese Begabung zeigte sich erneut bei seinem letzten Bestseller „Bullshit Jobs“. Das Buch beruht auf Selbstzeugnissen von Angestellten, die gut bezahlte Stellen haben, aber darunter leiden, dass ihre Tätigkeiten völlig sinnlos sind.
Graeber hatte die Fähigkeit, die bekannte Welt neu zu sehen. Sein ungewöhnlicher Blick wird fehlen. Am Donnerstag ist Graeber mit 59 Jahren gestorben.
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