: Wer ist „wir“?
Fünf Jahre sind seit Merkels „Wir schaffen das“ vergangen. Seán McGinley vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg hält den Satz für so verlogen wie die ganze deutsche und europäische Flüchtlingspolitik.
Von Gastautor Seán McGinley↓
So ganz geheuer war mir dieses „Wir schaffen das!“ schon damals nicht. Da ich mich 2005 nicht als Papst und 2014 nicht als Weltmeister gefühlt hatte, hatte das Wort „Wir“ bei mir immer die Frage ausgelöst: Wer gehört zu diesem „Wir“ dazu und wer nicht? Merkels Wortwahl erweckte den Eindruck, die Regierung und die staatlichen Institutionen würden am gleichen Strang ziehen wie die vielen Menschen, die sich – häufig ehrenamtlich – für die Geflüchteten einsetzen. Ich erinnere mich, wie dieser Eindruck damals bei vielen Engagierten und auch bei vielen Geflüchteten vorherrschte.
Integrationserschwerende Abwehrpolitik der EU
Dabei war die Aufnahme von Geflüchteten keine großzügige Geste der Humanität, sondern eine pragmatische Anerkennung des Umstandes, dass eine größere Anzahl von Menschen aus eigenem Antrieb die Mauern der europäischen Abschottungspolitik überwunden hatte und es politisch nicht vertretbar gewesen wäre, sie mit Gewalt aufzuhalten. Letzteres wäre nämlich die einzige Alternative gewesen zu dem, was tatsächlich passiert ist. Nicht lange davor hatten die Regierungsparteien Forderungen nach zusätzlichen Aufnahmekontingenten für Flüchtende aus Syrien abgelehnt. Man habe schon genug getan, und überhaupt sollte man lieber den Menschen vor Ort helfen.
Nachdem die Menschen, die die Bundesregierung nicht haben wollte, dann doch gekommen waren, richtete sich das Augenmerk der Politik sehr rasch darauf, eine Wiederholung dieses „Betriebsunfalls“ zu verhindern. Bei dem EU-Gipfel in Valletta im November 2015 wurde eine neue Initiative für die Bekämpfung der Migration aus Afrika und für die militärische Aufrüstung der Grenzkontrollen gestartet, ebenso wurden im Herbst 2015 weitere „sichere Herkunftsstaaten“ bestimmt und eine zunehmend integrationserschwerende Abwehrpolitik betrieben. Regelmäßige Gesetzesverschärfungen, die mit einer solchen Eile durchs Parlament gepeitscht werden, dass die Kontrollfunktion des Parlaments zum leeren Ritual verkommt und der demokratische Gesetzgebungsprozess zur Farce, sind seitdem die Regel geworden.
Im Herbst 2016 hat Merkel dann mit einer weiteren „Wir“-Formulierung eine neue Aufgabe für das Kollektiv formuliert. „Wir brauchen bei Rückführungen eine nationale Kraftanstrengung“, sagte die Bundeskanzlerin beim Deutschlandtag der Jungen Union. Dieses ominöse „Wir“ hatte nun andere Prioritäten. Ganz in diesem Sinne gab es 2016 die erste Sammelabschiebung nach Afghanistan sowie weitere Gesetzesverschärfungen, unter anderem die Einführung eines ganzen Katalogs von völlig weltfremden Kriterien für ärztliche Atteste im Kontext von Abschiebungshindernissen, so dass die Abschiebung schwerkranker Menschen deutlich erleichtert wurde.
Der Staat schafft laufend rechtsfreie Räume
In diesem Sinne ging es seitdem weiter. Die Politik bestimmen mittlerweile die ideologisch bornierten Überzeugungstäter, denen die öffentlichkeitswirksame Performance von Macht- und Dominanzritualen des „Wir“ gegenüber den „Anderen“ wichtiger ist als pragmatische Politik. Oder auch als die Einhaltung ihrer eigenen Gesetze. Wenn es um rechtswidrige Polizeirazzien, die massenhafte unrechtmäßige Inhaftierung in Abschiebungshaft oder um die Verletzung von Grundrechten bei Abschiebungen geht, schafft dieser Staat ein ums andere Mal rechtsfreie Räume – ohne jegliche Folgen. Es sind ja nicht „Wir“ betroffen.
Es fällt mir also schwer, positiv Bezug zu nehmen auf Merkels „Wir schaffen das!“, weil dieser Satz genauso verlogen ist wie die ganze deutsche und europäische Politik in diesem Bereich. Die politisch Verantwortlichen wollten nicht, dass die Geflüchteten kommen. Wenn es nach ihnen ginge, wären diese Menschen, von denen einige mittlerweile unsere Freund*innen, Kolleg*innen und Nachbar*innen geworden sind, jetzt in überfüllten Elendslagern in der Türkei, im Libanon oder in Libyen, in täglicher Lebensgefahr in Kriegsgebieten wie Syrien oder Afghanistan oder tot auf dem Boden des Mittelmeeres. So soll nach dem Willen der politisch Verantwortlichen zukünftig das Schicksal von Menschen auf der Flucht sein. Mit denen, die diese Ziele verfolgen, kann es aus meiner Sicht kein gemeinsames „Wir“ geben. Das, was „wir“ – und damit meine ich diejenigen, die sich in den letzten Jahren haupt- und ehrenamtlich dafür eingesetzt haben, dass geflüchtete Menschen auf vielfältige Weise unterstützt wurden – geschafft haben, haben wir nicht mit oder gar wegen, sondern trotz der politisch Verantwortlichen geschafft.
Seán McGinley ist Politikwissenschaftler und Leiter der Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg in Stuttgart.
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