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Mildes Bild vom Wahn

Das Krankenhaus-Museum zeigt Zeichnungen des Hamburger Malers Carl Milde. Der porträtierte im Dienste der beginnenden Psychiatrie Patient*innen

Eine unbekannte Kranke Foto: Krankenhausmuseum/Milde

Seine Modelle waren Patientinnen und Patienten der Psychiatrie im Hamburger Krankenhaus St. Georg: Mit dem genauen Blick des Zeichners gestaltete der Maler Carl Julius Milde (1803–1875) Porträts als Teil der ärztlichen Diagnose. Das Bremer Krankenhaus-Museum am Klinikum Bremen-Ost zeigt seit Beginn der Woche Arbeiten des Künstlers im Dienst der Medizin, die zwischen 1829 und 1834 entstanden. Mit den Zeichnungen werde klar, dass das Leiden oft unsichtbar blieb, erläutert Kurator Jannik Sachweh: „Man sah den Patienten ihre Krankheit eben nicht an der Nasenspitze an.“ Die lichtempfindlichen Bleistift-Zeichnungen entstanden im Rahmen einer Psychiatrie, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zu einer Wissenschaft entwickelte.

„Ärzte benötigten genaues Bildmaterial, um psychische Erkrankungen zu unterscheiden und zu klassifizieren“, so Historiker Sachweh. Milde habe versucht, „die Wahrhaftigkeit einzufangen“, erklärt der Kurator weiter. „Die Porträts erzeugen eine beeindruckende Nähe zu den dargestellten Personen und regen unmittelbar zum Nachdenken über die vermeintliche Sichtbarkeit von Krankheiten an.“

Spuren des Lebens

Man erkenne Spuren des gelebten Lebens, den verletzbaren, vielleicht auch den leidenden Menschen, aber keine Physiognomie der Geisteskrankheiten. Die vom Faschismus unternommene Klassifizierung von Menschen sei eben nicht möglich, sagt auch Achim Tischer, Leiter der „Kulturambulanz“ am Klinikum Bremen-Ost. Sachweh ergänzt, die Vorstellung, dass man Menschen ihre psychische Krankheit ansehen könne, habe sich bis heute gehalten.

Von den Patient*innen zeichnete Milde stets Brustbilder, datiert und oft mit dem Namen und den Berufen der Dargestellten versehen: Kaufmann, Tischler, Instrumentenmacher, Maler, Dienstmagd – Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft. Wohl um auch Heilungserfolge zu dokumentieren, malte er von einigen jeweils ein zweites Bild, neben dem Porträt des Kranken auch das Porträt des „Geheilten“. „Die Unterschiede beschränken sich oft auf gebürstete Haare und gewaschene Kleidung“, so Sachweh.

Chefarztvisite ist geplant

Die Ausstellung unter dem Titel „Irr-Real“ umfasst knapp 80 Bilder und läuft bis zum 3. Januar. Sie wird unter anderem von einem Workshop zum Porträtzeichnen für Kinder und Jugendliche und einem Zeitzeugengespräch zum Wandel der Psychiatrie begleitet. Überdies will sich der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum Bremen-Ost, Martin Lison, in einem Vortrag zur Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Erkrankungen äußern. (epd)

„Irr-Real – Carl Julius Milde, das Porträt und die Psychiatrie“, Ausstellung im Krankenhaus-Museum Bremen-Ost, Mi–So, 11 bis 18 Uhr. Bis 3. Januar 2021

Katalog: Alexander Bastek (Hg.), „Irr-Real – Carl Julius Milde, das Porträt und die Psychiatrie“, Michael Imhoff, 192 S., 20 Euro.

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