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Wo Gäste beim Sightseeing aufs Handy starren

In der Kleinstadt Glückstadt im Westen von Hamburg können Tourist*innen mit der „Glückstadt-App“ in die Stadtgeschichte eintauchen. Gerade in der Coronazeit macht dies das Abstandhalten leicht. Aber ist die App eine echte Alternative zu geführten Touren? Unsere Autorin hat es ausprobiert

Erinnert an Architektur in den Nieder-landen: Häuserreihe in Glücksstadt. Die App verrät mehr darüber Foto: Andrea Maestro

Von Sarah Mahlberg

Über den Marktplatz in Glückstadt spazieren zwei Menschen in gelben Regenmänteln. Ein norddeutsches Klischee. Und ein Farbtupfer an diesem grauen Tag. Rotklinker- und Fachwerkhäuser säumen den Platz. In der Mitte steht eine einzelne Straßenlaterne. „Der große Kandelaber war das Geschenk einer großen Reederfamilie an die Stadt“, schallt es aus meinem Handy. Darauf ist die „Glückstadt-App“ geöffnet. Wie bei einer Schnitzeljagd sind dort auf einer Karte der Kleinstadt Punkte eingezeichnet, über die man per Audioguide mehr Informationen bekommen kann. Der Marktplatz ist der erste Stopp.

Vor einer typisch norddeutschen Geräuschkulisse aus Möwengeschrei und Schifferklaviermusik erzählt eine männliche Stimme vom dänischen König Christian IV., der hier einst erste Menschen angesiedelt hätte. „Dat schall glücken, dat mut glücken und dorum soll de Stadt auch Glückstadt hieten“, zitiert eine andere Stimme mit königlichem Nachdruck.

Auf die Häuser und die davor geparkten Autos blickend wird mir ein Hörspiel geboten, das mich erst in das Gründungsjahr 1617 zurückversetzt und dann Geschichten von der Hanse, dem Walfang und dem späteren Napoleonkrieg erzählt. Es fühlt sich an, wie in vielen Zeiten gleichzeitig zu sein.

Wiebke Kruse, die Geliebte des Königs, starb nur wenige Tage nach ihm

„Wir sind mit der App in der ersten Saison“, sagt eine Mitarbeiterin der Stadt. Die Idee hatte das Detlefsen-Museum, das den eigenen Audioguide ausweiten wollte. Die Inhalte lieferte die Touristeninformation, gefördert wurde die App vom Meeres- und Fischereifonds der EU. Auch deshalb spielt sie oft auf die Geschichte des Fischfangs der Stadt an. Mit der App kann man auch eine Führung zum Thema „Walfang“ durch das Museum machen. Glückstadt gilt außerdem als Matjesstadt und der Stadtrundgang wird etwa zweieinhalb Stunden später mit der Einladung enden, den „besten Matjes Deutschlands“ doch einmal zu probieren.

Bis dahin bahne ich mir mithilfe des Handyplans einen eigenen Weg durch den Ort, höre am Hafen noch mehr Akkordeon­musik und die Geschichte von Wiebke Kruse, der Geliebten des Königs Christian, nach der ein Turm am Hafen benannt ist und die aus ungeklärten Umständen nur wenige Monate nach dem König starb.

Soll diese App die Stadtführungen in Glückstadt langfristig ersetzen? „Geführte Touren bieten wir nur am Wochenende an, da ist die App unter der Woche eine gute Ergänzung“, heißt es vonseiten der Stadt. Und tatsächlich ist diese Art der geführten Tour nicht übel. Wer die Stadt erkunden möchte, kann sein eigenes Tempo festlegen, die Reihenfolge der Punkte spontan bestimmen und die Wege viel besser kennenlernen, als wenn man einem Stadtführer hinterhergelaufen wäre. Allerdings könnte der weitere Fragen beantworten. Jetzt muss ich allein spekulieren, was wohl mit Wiebke Kruse passiert ist.

Coronabedingt fanden bis Juli überhaupt keine Führungen statt. Ins Touristenbüro Glückstadt darf nur eine Person zur Zeit. „Jetzt kommen nur sehr wenig Leute“, sagt eine Mitarbeiterin. Doch die Resonanz auf die App sei positiv, wenn auch vor allem bei jüngeren Menschen. „Aber wir hatten auch schon eine 80-Jährige hier, die ganz flott ihr Smartphone rausgeholt und sich die App installiert hat“, sagt die Mitarbeiterin. „Und umgekehrt 40-Jährige, die meinten: Bleiben Sie mir bloß weg mit so was.“ Die meisten Besucher*innen in Glückstadt seien in den Fünfzigern und legten hier beim Elberadweg einen Zwischenstopp ein. Das Touristenbüro weise immer auf die App hin. Die meisten reagierten positiv.

Mit der App entdecken

Wattenmeer-Region erkunden: Der WWF hat mit dem Gemeinsamen Wattenmeer-Sekretariat einen digitalen Tourguide für die nordfriesische und dänische Wattenmeer-Region entwickelt. Im „Wadden Sea Explorer“ stehen zunächst 25 Routenvorschläge in deutscher und dänischer Sprache zur Auswahl. Ganz individuell ließen sich auf kurzen Spaziergängen oder mehrstündigen Touren die Besonderheiten der einzigartigen Gegend erkunden.

Auf Grass' Spuren:

Wer auf den Spuren von Günter Grass wandern, joggen oder radeln möchte, findet dafür demnächst eine neue App: Das Lübecker Günter-Grass-Haus hat für den Herbst die Veröffentlichung von „Kanal digital“ angekündigt, der Interessierte von Lübeck bis Mölln durch das Stecknitztal führt.

Welterbe digital

Mit der Speicherstadt-App lässt sich das Unesco-Welterbe in Hamburg anders erleben. Geschichten und Zeitzeugenberichte zum Hören und Lesen sowie historische Bilder dokumentieren die Veränderung der Speicherstadt über die Jahre.

Das Konzept der App lässt auch erkennen, dass sie nicht bloß für Digital Natives erdacht wurde. Man kann sich eine von drei Schriftgrößen auswählen, die Audios nach Belieben laut drehen und in den Stadtplan hineinzoomen. Außerdem enthält der Plan keine Standortanzeige, man muss also auch in der Lage sein, Karten zu lesen.

Obwohl die App neu ist, scheint sich in Glückstadt niemand mehr über Tourist*innen zu wundern, die mit ihrem Handy durch die Stadt steuern. Am Fleet auf der kleinen Brücke stoppe ich abrupt, beuge mich über mein Handy und lausche dem Plätschern von Wasser und einer Frauenstimme, die mir die frühere Wasserversorgung der Stadt erklärt. Es muss ein komischer Anblick sein, aber niemand guckt. Glückstädter Alltag.

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