american pie
: Zermürbt vom Ausstand

Die nordamerikanischen Eishockey-Profis wollen endlich wieder ihrer Arbeit nachgehen – und das auch noch für weit weniger Geld als zuvor

Jeden Mittwochabend treffen sich in der Eishalle von Toronto eine Gruppe Mittfünfziger, um ein wenig den Puck hin und her zu schießen. Bei den Herren handelt es sich um das, was man in Deutschland eine Thekenmannschaft nennt – die grau melierten Eishockeysenioren ziehen in der Hauptsache ihre Schlittschuhe an, damit später das Bier besser schmeckt. Einer der Herren ist der Rechtsanwalt Tim Gilbert. Und während des letzten Jahres, als die Besitzer der nordamerikanischen Profiteams ihre Spieler ausgesperrt hatten, hatte Gilbert beim Bier eine Idee. Da in diesem Jahr niemand den Stanley-Cup verliehen bekam, meldete er für seine Truppe Anspruch auf die Trophäe an. Er wies nach, dass die NHL kein Monopol auf den Pott hat, den der kanadische Gouverneur 1893 für 10 Guineas gekauft und den besten Amateuren des Landes übergeben hatte. Das oberste Gericht von Ontario prüft derzeit den Fall.

Die Anekdote bringt trefflich den Zustand des Eishockeys in Nordamerika auf den Punkt – der Stanley Cup ist ein Flohmarktartikel, dessen früherer Glanz kaum mehr durch die Patina schimmert. Dass die Saison 2004/2005 wegen der Lohnverhandlungen zwischen Spielern und Besitzern ins Wasser gefallen ist, hat kaum jemanden gestört. Eishockey war vor dem Lock-out schon in einer Baisse, mittlerweile will es niemand mehr für geschenkt. Nachdem sich Spieler und Clubs in der vergangenen Woche endlich geeinigt haben, beginnt für die NHL jetzt ein langer Kampf um Publikum und Medienaufmerksamkeit.

Schon im Mai hatte der Sportkanal ESPN der NHL zu verstehen gegeben, dass die Liga sich die vereinbarten 60 Millionen jährlich für die Übertragungsrechte aus dem Kopf schlagen kann. ESPN war ohne Eishockey sogar besser gefahren; mit Pokerübertragungen und mit College Basketball hatte der Sender höhere Einschaltquoten als mit den 104 NHL-Spielen erreicht. Deshalb wird, wenn die NHL nicht ihren Preis um mehr als die Hälfte senkt, der Sender lieber auf die Liga verzichten. „Es ist unglaublich zäh geworden, Eishockey anzuschauen“, sagt der ESPN-Hockey-Kommentator Bill Clement.

Noch hoffen die Liga-Oberen, anderswo einen besseren Preis zu erzielen als bei ESPN. Man hat allerdings verstanden, dass das Produkt merklich aufgepeppt werden muss. Teil der neuen Vereinbarungen zwischen Spielern und Teameignern ist eine grundlegende Spielreform, die attraktiveres, offensiveres Eishockey fördern soll. Die Zonenbegrenzungen für das Passspiel werden ebenso gelockert wie die Abseitsregelung, und es gibt künftig auch während der regulären Saison Shoot-outs bei Gleichstand nach der Verlängerung.

Die Regeländerungen sind allerdings so ziemlich das Einzige, das im Hinblick auf die kommende Saison feststeht. Das neue, 600 Seiten starke Lohnabkommen wird in den kommenden Wochen die Mehrzahl der 550 Spieler auf den freien Markt spülen. Es wird ein allgemeines Chaos erwartet, an dessen Ende keine Mannschaft mehr wiederzuerkennen ist. Das Einzige, was sich abzeichnet, ist, dass die Spieler die Verlierer des Lock-outs sind.

Der Grund, warum so viele Verträge neu verhandelt werden müssen, ist, dass die Spieler einer allgemeinen Lohnkürzung um 24 Prozent zugestimmt haben. Zudem ist in der NHL erstmals ein Salary Cap eingeführt worden – ein einzelner Spieler darf nicht mehr als 20 Prozent des Teamumsatzes verdienen, und die Löhne dürfen pro Team die Summe von 39 Millionen Dollar nicht mehr überschreiten. Jeffrey Kessler, Anwalt der Spielergewerkschaft, nennt das Abkommen „den größten Rückschritt für Spielerinteressen in der Geschichte des amerikanischen Profisports“. Der Center der Philadelphia Flyers, Jeremy Roenick, stimmte zu: „Das ist kein spielerfreundlicher Deal.“ Trotzdem stimmten 484 der 550 Profis dem Abkommen zu. Die Spieler waren nach 301 Tagen Ausstand schlichtweg mürbe geworden.

SEBASTIAN MOLL