Ausstellung 100 Jahre Groß-Berlin: Big Bang der Berliner Geschichte

Die Ausstellung „Chaos & Aufbruch“ im Märkischen Museum blickt zurück auf 1920 und stellt die Frage, welche großen Würfe heute nötig wären.

Mn sieht eine Brücke

Die Stadt als Maschine: Oskar Nerlingers „Straßen der Arbeit“ Foto: Sigrid Nerliner

Allein der öffentliche Nahverkehr! Das U-Bahn-Netz verdoppelt, den Nord-Süd-Tunnel der S-Bahn fertiggestellt, das Straßenbahnnetz auf 643 Kilometer erweitert – und dann noch utopische Zeichnungen wie „Die Straßen der Arbeit“ von Oskar Nerlinger. Die Bilanz der Berliner Verkehrspolitik der zwanziger Jahre kann sich sehen lassen, und sie regte die Fantasie an. Zum Vergleich: Für die Verlängerung der U5 zwischen Alexanderplatz und Hauptbahnhof, die im Dezember fertig sein soll, brauchte es elf Jahre. Und das Straßenbahnnetz beträgt heute weniger als die Hälfte an Streckenkilometern wie in der Weimarer Republik.

Ein großer Wurf waren die Investitionen in U-Bahnen, Straßenbahnen und Buslinien vor hundert Jahren, erzwungen durch einen anderen großen Wurf, vielleicht dem größten, den Berlin in seiner Geschichte erlebt hat. Am 1. Oktober 1920 war das Groß-Berlin-Gesetz in Kraft getreten. 27 Gutsbezirke, 59 Landgemeinden sowie die sieben bisher selbstständigen Städte Charlottenburg, Köpenick, Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg, Spandau und Wilmersdorf wurden nach Berlin eingemeindet. Auf einen Schlag hatte die Stadt 3,8 Millionen Einwohner – und war nach New York und London die drittgrößte Stadt der Welt.

Ist das mit heute vergleichbar? Die 4-Millionen-Marke hatte die Stadt vor 100 Jahren nicht gerissen, nun ist sie in Reichweite. Was würde das für den Wohnungsbau, die Verkehrsinfrastruktur, die Sozialpolitik bedeuten? Diesen Fragen geht die Ausstellung „Chaos & Aufbruch. Berlin 1920/2020“ nach, die heute im Märkischen Museum öffnet.

Auf keinen Fall eine Rückschau zeigen, hat sich Kurator Gernot Schaulinski dabei vorgenommen. „Das Jubiläum von Groß-Berlin war für uns der Anlass für eine Gegenwartsbetrachtung“, sagte Schaulinski bei der Pressevorbesichtigung am Dienstag. „Auch das heutige Berlin leidet unter Wachstumsschmerzen und Veränderungsdruck.“

Die Ausstellung im Märkischen Museum beginnt am 26. August und dauert bis zum 30. Mai 2021. Ursprünglich sollte sie im März starten, wurde wegen Corona aber verschoben.

Auf Umfragestationen können die Besucherinnen und Besucher ihre Einschätzungen zu Themen wie Wohnen oder Verkehr abgeben. Die Ergebnisse werden am Ende des Rundgangs ausgestellt.

Zusammen mit den zwölf Bezirksmuseen startet das Märkische Museum sein begleitendes Projekt „Großes B – dreizehn Mal Stadt“. Es ist die Perspektive von unten auf Groß-Berlin. (wera)

Also hat Schaulinski die Schau in zwei Zeitebenen aufgeteilt. Im Untergeschoss des Märkischen Museums geht es auf eine Zeitreise in die zwanziger und dreißiger Jahre. Oben ist dann Platz für einen Rundgang unter der Überschrift „Impuls Berlin 2020“. Dabei geht es der Ausstellung ausdrücklich nicht um das Herumnölen an den „Berliner Verhältnissen“, sondern um kreative, utopische, künstlerische Interventionen, ähnlich wie bei der Zeichnung von Nerlinger aus dem Jahr 1930. Ganz großartig ist das von Schülerinnen und Schülern aus drei Bezirken entworfene Stadtmodell „ComplexCityBerlin“. Eindrücklich zeigt es, dass der Glaube an die Zukunft nicht restlos vom Hineinträumen in eine angeblich bessere Vergangenheit abgelöst wurde. Impulse aber hat diese Vergangenheit gegeben, und was für welche. Neben dem Nahverkehr stand der Wohnungsbau ganz oben auf der Berliner Agenda der zwanziger Jahre. Es entstanden die großen Bauten der Moderne, die heute zum Welterbe der Unesco gehören. Dazu kam eine rigorose Reform des Mietrechts zugunsten der MieterInnen. Von „Zwangsbewirtschaftung“ sprachen die konservative Kräfte damals. Das hört man noch heute, etwa wenn es gegen das Volksbegehren gegen die Deutsche Wohnen geht.

Alleine die Tatsache, sieben verschiedene Städte zusammen mit Berlin zu einer Stadt zusammenzuschalten, war eine Herausforderung. Politik und Verwaltung nutzten die Gunst der Stunde, um nicht nur Tarife, Zuständigkeiten und Fahrpläne zu vereinheitlichen, sondern auch um die städtische Infrastruktur aus privaten Händen in kommunalen Besitz zu führen. Strom- und Wasserversorgung, die Berlin in den Neunzigern privatisiert hat, waren damals als kommunale Aufgabe begriffen worden. Die Rekommunalisierung heute ist also ein back to the roots. Früher war nicht alles, aber es war vieles besser.

Allerdings war Groß-Berlin, auch das zeigt die Schau, stark umkämpft. Während die Zustimmung für die Bildung der „Einheitsgemeinde“ in Alt-Berlin, aber auch in Lichtenberg, Neukölln und Pankow groß war, organisierte der reiche Westen noch nach Inkrafttreten des Groß-Berlin-Gesetzes Kampagnen unter dem Titel „Los von Berlin“. Wie stark die Identifizierung mit der jeweiligen Gemeinde vor dem „Big Bang der modernen Stadtgeschichte“ war, wie es Schaulinski formulierte, zeigt der Bau der Rathäuser von Spandau bis Köpenick – und das Fortdauern des Kiezgefühls von Kreuzberg bis Schöneberg bis in unsere Tage.

Insgesamt sechs Themen behandelt die Rückschau „Berlin 1920“, neben Verkehr und Wohnungsbau auch das grüne Berlin, die Verwaltung, Erholung und den großen Bruch am Ende der Weimarer Republik.

Ein Thema, „Stadtgebiet & Grenzland“, schlägt dabei spielerisch den Bogen in die Gegenwart. Während im Rückblick etwa die Rede von Ausgleichsmaßnahmen zwischen den neuen Bezirken ist – Neukölln konnte sein Schulwesen modernisieren, und Charlottenburg bekam die Messe –, wird oben in einem der sechs Impulsprojekte am Beispiel von sechs Protagonisten der Wegzug von Berlin aufs Land thematisiert.

Dass „Chaos & Aufbruch“ keinen Vergleich mit anderen Metropolen wagt, heiße nicht, dass man sich selbst als Nabel der Welt fühlt. Vielmehr sei es dem Umstand geschuldet, dass es im Herbst noch eine weitere Ausstellung zu Groß-Berlin gebe, sagt der Vorstand der Stiftung Stadtmuseum, Paul Spies.

Die Stadtoberen jedenfalls wagten damals den Blick über den Tellerrand. 1929 reisten der damalige Oberbürgermeister Gustav Böß und Ernst Reuter mit einer Delegation in die USA. Der spätere Regierender Bürgermeister Westberlins war seit 1926 Stadtrat für Verkehrswesen und drehte einen privaten Film über den Trip, zu dem auch eine Stippvisite in New York gehörte. Die Faszination, die aus diesem Film hervorgeht, der nun erstmals gezeigt wird, zeigt, wie groß der Abstand von der drittgrößten zur größten Stadt der Welt war.

Die Reise in die USA war übrigens ein Debakel. Kaum waren Böß, Reuter und Co. zurück, musste der Oberbürgermeister, der Berlin so erfolgreich durch die Zwanziger manövriert hatte, wegen einer Affäre zurücktreten. Aus der Weltstadt wurde ein provinzieller Ort der Diktatur.

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