LIBANONS KLEINE SCHRITTE ZUR NORMALISIERUNG : Eine Freilassung ist noch keine Versöhnung
„Versöhnung und nationale Einheit“ beschwören libanesische Politiker seit Monaten – bei den Massendemonstrationen für und gegen die Präsenz syrischer Truppen, im Wahlkampf um die Sitze im Parlament und bei der anschließenden Regierungsbildung. Was jedoch unter „Versöhnung und nationale Einheit“ zu verstehen ist, hängt ganz von der Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen politischen Gruppierungen ab.
Unter einer prosyrischen Regierung wäre Samir Geagea, einst Chef der Miliz „Forces Libanaises“ (FL) und verantwortlich für Massaker und Mordanschläge im Bürgerkrieg, nie freigekommen. Schließlich war er auf Druck der Syrer verurteilt worden. Nachdem Wahlsieg der antisyrischen Opposition ist seine Amnestie allerdings eine logische Konsequenz. Die Libanesen nehmen ihre Geschichte wieder in die eigene Hand. Vorwürfe über Ungerechtigkeit und Doppelstandards kann es jetzt nicht mehr geben, nachdem auch dem letzten Kriegsverbrecher des libanesischen Bürgerkriegs verziehen wurde. Die ehemaligen Milizenführer sitzen wieder einem Boot. Anstatt loszuschießen, debattieren sie nun im Parlament.
Jedenfalls die meisten – an Demokratie müssen sie sich im Libanon erst gewöhnen. Noch immer wird oft zur Waffe gegriffen, bevor man Entscheidungen akzeptiert, die gegen die eigenen Interessen verstoßen. Politik ist hier ein Ränkespiel; es geht nicht um Prinzipien, sondern um Vorteile, Macht, Einfluss und Geld. Versöhnung bedeutet deswegen Interessenausgleich, nicht Aufarbeitung der Geschichte. Die Freilassung Geageas war bereits vor der Wahl beschlossen. Die FL ließen sich ihr Bündnis mit der erfolgreichen „Zukunftsbewegung“ von Saad Hariri, Sohn des ermordeten antisyrischen Ex-Regierungschefs Rafik Hariri, mit Garantien für eine Amnestie ihres Führers bezahlen. Trotz solcher Ränkespiele bedeutet die Freilassung Samir Geageas einen kleinen Schritt zur Normalität. Für ihn selbst und für die vielen Angehörigen seiner Opfer stellt sich allerdings die Frage, wie lange er den Akt der „Versöhnung und nationalen Einheit“ überleben wird. ALFRED HACKENSBERGER