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Ein haltloser Horizont, ganz ohne Linie

In den winzigen Buchten zwischen Triest und Duino gluckst das Meer ganz still und die Sehnsucht ist groß. Eine Kurzgeschichte

Von Martin Reichert

Noch immer zeugen seine schmalen Hüften und die Schultern, die einst breit gewesen und nun fast scheu nach vorne fallen, von körperlicher Eleganz. Ein Mann in seinen Achtzigern mit weißem, nach hinten gebürstetem, ihm verbliebenem Haar. Er ruht auf einem Leinentuch, das er auf ein Bett aus kleinen, spitzen Steinen gebreitet hat, gleich neben einem Felsbrocken, der ein wenig Schatten spendet. Vor ihm blau der Golf von Triest, hinter ihm nichts als Steilküste, Hunderte von Metern hoch.

Costa dei Barberi nennen die Einheimischen diesen wüsten Küstenabschnitt zwischen Triest und Duino, die Küste der Barbaren. Die Deutschen hatten hier im „Adriatischen Küstenland“, so nannten die Nazis das von ihnen besetzte Gebiet, das sich heute von der italienischen Adria über Slowenien bis nach Rijeka in Kroatien erstreckt, einen Hafen errichtet. Kleine U-Boote waren hier stationiert. Am Ende des Krieges hat man die Anlagen erst gesprengt und dann vergessen.

Fast vergessen. Noch immer kommen Männer hierher, gehen den schmalen Pfad herab, der vom einstigen Seilbahnhäuschen ganz oben an der Küstenstraße nach ganz unten ans Meer führt. Sie legen ihre Kleidung ab, legen sich auf Felsen und Steine, um sich zu sonnen.

Er nimmt einen Schluck aus seiner Wasserflasche, es ist heiß, sehr heiß und das Meer ist ganz still, es gluckst nur in den winzigen Buchten, die sich das Wasser in den Steinstrand gegraben hat. Dann steht er auf, um auf und ab zu gehen, so wie die anderen Männer, die hierher gekommen sind. Alte Männer, junge Männer.

Ein Mann mit rundem Gesicht und Bart steht fast bis zu den Knien im Wasser, die Hände in die Hüften gestemmt, einem Kapitän auf der Brücke gleich oder einem Eroberer, den es an fremde Küsten zieht, hin zu neuen Kontinenten – und doch bewegt er sich nicht vom Fleck. Ein junger Mann mit schwarzem Haar auch auf der Brust ist unkenntlich, mit schwarzer Sonnenbrille und weißen, drahtlosen Kopfhörern, trotz seiner Nacktheit.

Er geht langsam, bedächtig. Wenn er hinfiele, würde ihm dann jemand wieder die Steilküste hinauf helfen? Er geht den Pfad entlang, der unterhalb der Küste durch Buschwerk führt und den es schon während des Krieges gegeben haben muss. Reste kleiner Bunkeranlagen, MG-Stände, verrosteter Stacheldraht. Es riecht hier nach feuchter Erde und Lorbeer, Rosmarin. Auch nach weggeworfenen Zigarettenkippen, vielleicht Sonnenöl und Aftershave.

Er steht auf, um auf und ab zu gehen, so wie die anderen Männer, die hierher gekommen sind

Zigaretten hatten sie damals zusammen geraucht, Zigaretten der Marke Muratti. Weißwein hatten sie zusammen getrunken, den er mitgebracht hatte in seinem Rucksack aus Leder und Leinen, und ganz alleine waren sie manchmal hier gewesen an diesem Ort, den nun fast alle vergessen haben.

In der Ferne sieht er einen Tanker auf Reede liegen, ein großes Schiff. Es sieht aus, als ob das Schiff schwebt, einer Fata Morgana gleich. Ein haltloser Horizont, ganz ohne Linie. Klar umrissen dagegen die vielen Reusen, die vielleicht vierhundert, fünfhundert Meter von der Küste entfernt im Wasser schwimmen. Die Fischer haben sie hier ver­ankert, um Muscheln zu fangen.

Er erreicht den alten Kai. Rostige Stahlträger biegen sich in die Höhe, Betonplatten ragen schief. Die Sprengung muss halbherzig gewesen sein, ein großes Plateau ist geblieben. Hier hatten sie damals ihren letzten Abend miteinander verbracht, bevor er sich von Triest aus eingeschifft hatte, um sein Glück auf einem anderen Kontinent zu suchen. Amerika! Hier hatte er ihm zum Abschied die goldene Kette mit dem Hakenkreuz geschenkt, die er nach einem Sturm eines Morgens in einem Steinbett am Meer gefunden hatte. Er hatte Danilo nie wieder­gesehen.

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