Berauscht und beflügelt

Eine neun Meter große Muschel im Zeitungshochhaus, Künstler im zerwühlten Bett und immer wieder Vögel: Drei Ausstellungen im Kunstverein und in der Kestnergesellschaft in Hannover wollen während der Coronakrise Überlebenswillen zeigen

Piepmätze, am Bildrand und vor unscharfem Hintergrund: Jean-Luc Mylaynes Vogel-Fotos sollen keine Naturstudien sein Foto: Jean-Luc Mylayne, Courtesy Gladstone Gallery; Sprüth Magers

Von Bettina Maria Brosowsky

„Staying Alive“ – unter dem Zitat dieses Discofetzers der Bee Gees und des gleichnamigen Films aus den 1980er-Jahren haben sich mehrere Hannoveraner Kunstinstitutionen zusammengetan, um der Coronakrise Paroli zu bieten. Mag sein, dass manch Vorhaben vertagt werden musste, zumindest ist vieles in der Laufzeit verlängert worden und nun noch bis tief in die niedersächsischen Sommerferien zu sehen.

Thematisch am besten zum lebensfrohen Motto passen sicherlich die rund 40 riesigen Fotos des Franzosen Jean-Luc Mylayne, die das Erdgeschoss der Kestnergesellschaft mehr als üppig füllen. Mylaynes Motiv ist der Vogel, geradezu obsessiv beschäftigt er sich seit 40 Jahren mit dem kleinen Tier. Es sind aber keine ornithologischen Untersuchungen, die der 1946 Geborene und studierte Philosoph abliefert. Der Vogel, sein unstet flüchtiges Wesen, seine vielfältigen Habitate, die Mylayne und seine Ehefrau wie künstlerische Partnerin bis tief in die unwirtlichen Steppen im texanischen Südwesten verfolgen, sind Allegorien auf die kostbare Zeit des Lebens, den Wert des glücklichen Moments und die Qualität geduldigen Verharrens und Wahrnehmens, um sich all dessen bewusst zu werden.

Beflügelte Klischees

Die Bildtitel der streng durchnummerierten Großformate geben nur den Zeitraum der Entstehung an. So wird man, vielleicht dann doch etwas zu didaktisch angelegt, gezwungen, sich auf die formalen Kompositionen zu konzentrieren. Diese wollen von Naturstudien ganz erheblich abweichen, denn meist sitzt der Protagonist oder ein Vogelpaar ganz unorthodox am extremen Bildrand. Und wird dort vor unscharfem Hintergrund präsentiert, oder ist selber unscharf eingestellt, der scharfe Bildhintergrund wird dann das Thema. Manchmal ist eine Bildmontage bewusst eingesetzt, wie aus einer Schliere diffuser Informationen schält sich der durchgezeichnete Bildteil heraus.

Die Methoden Malaynes, etwa auch des Spiegelns, der Addition von Teilbildern in separaten, übereinander gestellten Fotografien oder der Wiederholungen im Tableau, hat man allerdings schnell erkannt – genauso schnell sind die Bildergebnisse „erwartbar“ in ihrer Dramaturgie.

Unromantisches Rauschen

Solch romantische Kollaterale sind nicht Sache der deutschen Bildhauerin und Installationskünstlerin Katinka Bock, die im Obergeschoss der Kestnergesellschaft ausstellt. 1976 in Frankfurt geboren, lebt Bock seit Studienzeiten in Paris. Dort wurde auch erst mal ihre etwa neun Meter große plastische Arbeit „Rauschen“ ausgestellt, allerdings aufgehängt in einem hohen, mehrgeschossigen Raum. So erinnerte sie vielleicht an einen leeren Bienenkorb, in Hannover liegt sie nun wie eine überdimensionierte Meeresmuschel am Boden, Betrachtende mögen sich vielleicht das titelgebende Akustikphänomen in ihrem Inneren hinzudenken.

Bock interessiert, wie der Raum dem Objekt jeweils eine ganz andere Bedeutung und Aussage zu geben vermag, sie sieht ihn als gleichwertigen Partner ihrer Arbeit. Aber vorrangig ging es ihr um das assoziationsreiche Äußere, denn das ist aus alten, von den Spuren der Zeit gezeichneten Kupferplatten gefertigt, mit denen die Kuppel des benachbarten Anzeiger-Hochhauses bis zu ihrer Restaurierung eingedeckt war und die die Kestnergesellschaft für Bocks Arbeit sichern konnte.

Und wenn schon die räumliche Nähe zur architektonischen und pressehistorischen Ikone gegeben ist – hier wurden in den Nachkriegsjahren der Spiegel und der Stern aus der Taufe gehoben –, so schien es für Bock naheliegend, beider Räumlichkeiten und Requisiten weiter zu verschränken. Also wanderte der monströse­ und erschreckend­ sinistre Tisch der vormaligen Redaktions­konferenzen in die Ausstellungshalle und dient hier als Sockel für zwei Arrangements in Bronze gegossener Säulenkakteen.

Derweil erstreckt sich an seinem angestammten Raum im ersten Obergeschoss des ehemaligen Pressehauses die Skulptur „Gisant“, übersetzt: Liegender, auf blauem Teppichboden. Dieser kunstgeschichtliche Terminus beschreibt die Figur eines liegenden Toten auf einem Sarkophag oder Kenotaph. In diesem Falle ist eine nicht erkennbare Person durch eine Schicht heller keramischer Platten repräsentiert: So soll die Zweitverwertung von Zeitungsseiten als schützende Hülle durch Obdachlose angesprochen werden.

Kunst als gelebte Produktion: Julian Öfflers Installation#insidethewhitecube Foto: Volker Crone

In erfrischendem Kontrast zu diesen beiden wohlgesetzten Ausstellungen stehen drei Präsentationen von Preisträger:innen des Kunstvereins Hannover. Seit 1983 alle zwei Jahre vergeben, versteht sich die Auszeichnung als wichtiges Instrument der künstlerischen Nachwuchsförderung und Stärkung des Standorts Hannover.

Julian Öffler, 1985 in Soest geboren und im Bremen lebend, ließ sich als Trojanisches Pferd in einer Transportkiste in den Kunstverein anliefern. Die nächtliche Einsamkeit in den leeren Räumen nutzte er zu performativen Aktionen, die er per Instagram live übertrug. Der Krimskrams seines improvisierten Ateliers und ein Video erzählen nun von der Umwidmung des Kunstvereins zum exklusiven Produktionsort.

Kunst des Krimskrams

Gleich für die gesamte Dauer der Ausstellung nutzt Lukas Zerbst­, 1985 in Polen geboren und in Hannover ansässig, zwei Räume zum Wohnen und Arbeiten. Zeugte zu Anfang wohl nur ein zerwühltes Bett von seiner Anwesenheit, so sind mittlerweile Regale gefüllt, und eine ausrangierte, wieder zusammen­getüftelte Wendeltreppe­ aus Metall scheint noch der installativen Neuverwendung zu harren.

Wie ein riesiges Lager künstlerischen Halbzeugs mutet auch der Part von Isabel Nuño de Buen an. Die 35-jährige Mexikanerin war ab 2017 zweijährige Residenzstipendiatin und blieb der niedersächsischen Landeshauptstadt treu. Ihre (fertigen) Objekte zeichnen sich durch ungewohnte Materialkombinationen aus, eine große dreiteilige Zeichnung ist aus Papierstreifen gewebt, Applikationen sind mit lockerem Heftstich aufgenäht. Sie bekennt sich so zu analoger Handwerklichkeit mit einem angenehmen Touch ethnografischer Rückverankerung in einer sich international aufführenden Kunstwelt.

Jean-Luc Mylayne: Herbst im Paradies und Katinka Bock: Rauschen, bis 23. August, Kestnergesellschaft Hannover;

Preis des Kunstvereins Hannover: bis 16. August, Kunstverein Hannover