: Die Jugend vom Eckensee
Die Krawalle von Stuttgart und Frankfurt werden in ganz Deutschland rauf und runter diskutiert. In der Landeshauptstadt wird es nun Videoüberwachung, eine Sicherheitspartnerschaft und ein neues Streetwork-Konzept für die Innenstadt geben. Aber abgesehen davon: Wie ist das eigentlich, jung zu sein in Stuttgart?

Von Anna Hunger↓
Am Stuttgarter Eckensee brennt die Luft. Jedes Wochenende. Seit Jahren. Gekümmert hat sich kaum einer drum, das dortige Streetwork-Programm wurde vor Jahren von Grün-Schwarz eingestellt, weil keiner mehr dafür Geld ausgeben wollte. Das hat sich vor vier Wochen gerächt. Gefühlt hat sich ganz Deutschland mit der sogenannten Krawallnacht in Stuttgart befasst. Und nun kommt auch noch Frankfurt dazu. Ist es Corona? Sind es Migranten? Alkohol? Ist es die Jugend? Eine Jugend übrigens, die – egal in welcher Dekade – immer als delinquent wahrgenommen wird. Alle möglichen klugen und nicht so klugen Ideen werden zur Interpretation und Lösung der Ereignisse präsentiert. Das liberale Stuttgart versucht zu erklären, dass die migrantische Teilhabe fehlt. Die einen wollen mehr Staatsgewalt, die anderen weniger Polizei, wieder andere würden die Krawallies am liebsten in den nächsten Abschiebeflieger setzen.
Die Polizei sieht sich als den unverstandenen Part in der ganzen Sache. Die Politik macht Wahlkampf. Über allem hängt mittlerweile der Begriff der Stammbaumforschung. Angedacht sind Videoüberwachung und Sicherheitspartnerschaft zwischen Stadt und Land. Und irgendwo dazwischen stehen die Stuttgarter Jugendlichen, an denen sich nahezu alle Probleme kristallisieren, die unsere Gesellschaft zu bieten hat.
Pascal Alf, 18 Jahre alt, ist seit fünf Jahren Jugendrat in Stuttgart, Minh Thi Huynh, 17, mittlerweile seit fast drei Jahren. Momentan passiere vor allem eines, sagen beide: Oberflächenkosmetik. „Damit auf der Einkaufsmeile bloß keine Scheiben mehr eingeschlagen werden.“
Das sei ein generelles Problem der Politik, sagen sie, die befasse sich nur mit „dringenden“ Themen und nicht mit den „wichtigen“, langwierigen, weil mit langwierig in einer Amtszeit kein Blumentopf zu gewinnen sei. Irgendwann aber werden die wichtigen Probleme zu groß, um sie zu bewältigen. „Ich bin froh, dass die Krawalle in Stuttgart und Frankfurt passiert sind, nicht in Dresden oder Leipzig“, sagt Pascal. „Jetzt kann man es nicht auf den Osten schieben. Nein, bei uns arroganten Schwaben war’s. Jetzt müssen wir alle uns damit befassen, und das ist gut so.“
Oase für Jugendliche in einer Todsünde aus Beton
Anna Krass und Simon Fregin arbeiten in der Mobilen Jugendarbeit im Europaviertel. Seit März 2018 am Mailänder Platz, einer Oase mit Brunnen inmitten einer städtebaulichen Todsünde aus Beton-Bürogebäuden. Die Architekten hatten zwar Menschen, die diesen Platz nutzen sollten zu Begegnungen, in ihre Entwürfe hineinvisualisiert. Die Realität ist aber kein Reißbrett und der Mailänder Platz wurde sozialer Brennpunkt, okkupiert von Jungen, um die sich keiner gekümmert hat. „Aneignung“ nennt man das im Sozialarbeiter-Jargon. Anna Krass, Simon Fregin und ihre KollegInnen haben dort Angebote geschaffen, sie sind Ansprechpartner, wenn’s brennt oder der Schuh drückt. Wertschätzung in einer Stadt mit poliertem Image, die vor allem Konsumenten etwas bietet.
„Der öffentliche Raum ist nahezu komplett funktionalisiert worden“, sagt Anna Krass. „Es gibt kaum mehr freien Platz.“ Dafür gibt es in der Stadt viele Jugendliche, die daheim kein eigenes Zimmer haben. Die mit ihren Geschwistern zu dritt auf dem Sofa schlafen, weil die Familie kein Geld hat, sich im sauteuren Stuttgart eine größere Wohnung zu leisten. Diese Jugendlichen wollen raus, auch ohne Corona. „Aber wo kann Jugend Jugend sein in einer Großstadt?“, fragt Krass. „Spielplätze sind eigentlich nur bis 12 Jahre. Es gibt kein Klo. Nachbarn beschweren sich wegen Lärm und Müll“, und es kommt – Polizei. In der Stadt ist das anders als auf dem Land, wo die Jugend den Dorfpolizisten kennt und der seine Pappenheimer. Nach Stuttgart kommt auch mal die Göppinger Bereitschaftspolizei, räumt auf und verschwindet wieder.
„An den Eckensee gehen Jugendliche, um Rauscherfahrungen zu machen, zu feiern und um Leute kennenzulernen“, sagt Simon Fregin. Beides ist wichtig auf dem Weg zum Erwachsenwerden, aber manchmal werden kleine Probleme mit einem halben Liter Wodka im Kopf schnell existenziell. Einen Korb bekommen von einem Mädchen, versaut die Laune nachhaltig. „Jugend ist explosiv“, sagt Anna Krass. „Jugend muss sich selbst finden, sich entwickeln, und hat dieses kräftige Potenzial in sich.“ Positives Potenzial, wie an dem Tag, als ihre Jugendlichen „das machen wollten, was die Stuttgart‑21-Gegner immer machen“. Es habe eine ganze Weile gedauert, sagt Krass, bis sie verstanden habe, dass damit eine Demo gemeint war.
Also sind sie mitten in den Haushaltsberatungen vors Rathaus gezogen. „Die haben sogar Schilder gebastelt“, sagt Krass. Okay, auf einem stand nur: „Wallah, gib Geld!“, aber immerhin. Drei Gemeinderäte seien extra aus dem Rathaus gekommen, um mit den Jugendlichen zu sprechen. „Wie stolz sie alle waren“, erzählt Krass. Und als ein Mädchen ein paar Tage später Angst vor einem wichtigen Gespräch hatte, riet ihr die Sozialarbeiterin, es einfach zu machen wie mit dem Politiker – „nett sein und sich unterhalten, das kannst du.“ Und siehe da: Das Mädchen konnte. Auch das sind Jugendliche vom Eckensee.
Das mit dem Respekt ist so eine Sache
Mittlerweile liegt ein neues Konzept für Mobile Jugendarbeit in der Innenstadt auf dem Tisch, das Fregin und Krass mitentwickelt haben. 380.000 Euro soll es kosten.
In Person der Polizistin Nadien Berneis hatte sich vor Kurzem sogar eine ehemalige Miss Germany über die Krawalle in Stuttgart geäußert: „Wir sind ja wirklich vieles mittlerweile gewöhnt: Beleidigungen, sich anspucken lassen“, schreibt sie auf Instagram. „Widerstand und tätliche Angriffe … Als ich meine Ausbildung 2009 begann, tat ich das mit der Intention, einen Beruf gewählt zu haben, der Menschen helfen soll und der mit Respekt gewürdigt wird. Doch das ist schon lange nicht mehr so.“ Dafür gab’s natürlich Beifall.
Das mit dem Respekt sei so ein Thema, sagt Martin Morbitzer, Sozialarbeiter im Jugendhaus Bad Cannstatt, ein knuffiger Typ mit Tuch im Haar und Metal-Shirt: „Nehmen wir einfach nur den Respekt vor Lehrern auf einem Gymnasium. Da schreibt einer eine schlechte Note und dann kommen die Helikoptereltern und drohen dem Lehrer mit Klage. Da müssen wir überhaupt nicht von fehlendem Respekt bei Migranten sprechen.“ Bei Martin Morbitzer und Gregor Glaßmann, Chef des Cannstatter Jugendhauses, geht die Klientel ein und aus, die am Wochenende auch mal gerne am Eckensee sitzt.
Vor allem über die Behauptung, die Partyszene, die Club-Szene, habe da Krawall gemacht, regen sich beide bis heute auf. Nicht nur, weil sie das mit einschließen würde. „Flüchtlinge beispielsweise will man in den Clubs nicht so gerne haben. Vor allem Schwarze nicht“, sagt Morbitzer. Es sei wie überall und immer: Die, die nicht stromlinienförmig sind, werden als Problem wahrgenommen. Ob das Punker sind, Kuttenträger, Gothics, jugendliche Migranten. Corona hat das zum Aufbrechen gebracht. Junge Leute aus seinem Haus mussten bis zu 500 Euro Strafe zahlen wegen nicht eingehaltener Mindestabstände. Ein Afghane sagte kürzlich, erzählt Gregor Glaßmann: „Ich bin von Afghanistan hierher gelaufen – jetzt soll ich Abstand halten? Ernsthaft?“
„Viele Geflüchtete können mit unserer Lebenswelt hier einfach noch nichts anfangen“, sagt Glaßmann. „Sie wollen mit Alex, Jack oder Tom angesprochen werden, weil ihr eigentlicher Name nicht deutsch klingt und sie sich minderwertig fühlen.“ Manchmal nehme er sie dann ins Gebet und erkläre, dass jeder Mensch Wurzeln hat, die zum eigenen Ich gehören und die man nicht verleugnen darf, sagt Morbitzer. „Wenn du siehst, wie sie sich manchmal Mühe geben, um cool zu sein, und dann doch nicht dazugehören“, sagt Glaßmann. Und dann gibt es viele, über denen eine drohende Abschiebung hängt wie ein Damoklesschwert. Das alles frustriert.
Morbitzer erzählt, wie mal ein Mannschaftswagen vors Jugendhaus gefahren kam und seine Jungs mit den Händen an den Fensterscheiben in der Reihe standen und die Hosen runterlassen mussten. Natürlich, sagen die beiden Männer, sei Durchgreifen manchmal absolut notwendig, da sind beide nicht zimperlich. „Hose runter ist aber richtig herabwürdigend.“ Mancher junge Mann sage sich da, Polizisten sind halt so, Schwamm drüber. Andere aber sehen das nicht so. Und wer hier häufig mit der Ordnungsmacht aneinandergerät, wer schon häufiger negative Erfahrungen gemacht hat, der differenziert auch nicht mehr zwischen gefeiertem Protest in den USA und falschen Krawallen in Stuttgart.
Natürlich sind Jugendliche auch keine Kuscheltiere. Sondern junge Menschen, die auch mal drüber sind über dem, was man sich als durchschnittlicher Bürger von Stuttgart wünscht. Die Flaschen zerdeppern, weil’s schön klirrt, die ihren Müll herumwerfen, weil eben nicht alle Jungen Fridays sind. Und dann gibt es solche, die mit ausgestrecktem Bein in einen Polizisten springen, weil das so richtig spektakulär daherkommt, wenn genügend drumherum stehen, die das filmen. Ja, das ist nicht gut. Aber wer schon einmal erfahren hat, wie Polizisten bei Demonstrationen eingreifen können, weiß auch, dass die oft nicht zimperlich sind und sich wenig scheren darum, ob da einer Frau und Kinder daheim sitzen hat. Auch das ist eine Wahrheit.
„Die Polizei sollte aufseiten der Bevölkerung stehen“
Jugendrätin Minh Thi hat gerade Abi gemacht. Sie spricht sieben Sprachen, die meisten davon fließend, möchte internationales Management studieren. Manchmal ist sie mit Freunden unterwegs, die nicht deutsch aussehen, erzählt sie. Kontrolliert werden nur die beiden. Einer davon musste auf offener Straße die Hose runterlassen, während andere nicht mal einen Ausweis zeigen mussten.
Wenn Pascal mit seinem Kollegen unterwegs ist, einem mit dunklem Vollbart, werde immer nur der durchsucht. „Die Polizei hat ein Machtmonopol, das keiner kontrolliert“, sagt Pascal. „Du hast immer das Gefühl, sie denken: So, jetzt können wir hier mal Macht ausüben.“ Junge Polizisten, die mit Kolleginnen unterwegs sind, seien am schlimmsten. „Polizisten machen einem immer ein unsicheres Gefühl. Dabei sollten sie doch aufseiten der Bevölkerung stehen“, sagt Minh Thi. „Vielleicht sollte sich die Polizei einmal überlegen, was sie sein möchte.“
Am vergangenen Wochenende hat sich gezeigt, dass ein anderer Umgangston und ein bisschen Freundlichkeit statt Razzia schon helfen kann. Da räumen die Jugendlichen sogar ihren Müll freiwillig in die von der Polizei mitgebrachten Säcke.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen