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Archiv-Artikel

Die Planung des Mauerfalls

1989 Sie aßen Bockwurst und konferierten bis in die Nacht. Schon vor dem 9. November arbeiteten Westberliner Beamte daran, dass die Öffnung der Grenze nicht ins Chaos führt. Sogar die Ostkollegen bekamen Tipps

„Walter, da passieren heute noch ernsthafte Dinge“

DER BEAMTE DIETER SCHRÖDER ZU SEINEM CHEF MOMPER

VON JOHANNES GERNERT

Er braucht eine Weile, bis er den richtigen Zettel erwischt. Er kramt in dem Papierstapel. Ein Mitarbeiter kommt und hilft Günter Schabowski suchen. Schabowski kratzt sich am Kopf, setzt die Lesebrille auf und liest vor. Er bemüht sich, das alles beiläufig aussehen zu lassen. Es dauert einen Augenblick, bis die Korrespondenten im Pressezentrum kapieren, was das Politbüromitglied der SED gerade gesagt hat: Die DDR gewährt ihren Bürgern Reisefreiheit. Aber ab wann? „Sofort, unverzüglich“ gelte das, verkündet Schabowski, „meines Wissens“.

Als wüsste er es selbst nicht so genau. Als wäre es nicht das Kalkül des Politbüros, durch die Öffnung der Mauer das aufgebrachte Volk zu besänftigen. Es ist der 9. November 1989. Der Tag, an dem die Mauer fällt. Schabowski ist der Mann, der sie mit seinem Zettel umstürzt. Plötzlich und unerwartet.

So sieht das im Nachhinein aus, im Jahr 2009, in den Geschichtsbüchern. Günter Schabowski wirkt wie ein Aufseher im großen Gefängnis DDR, der versehentlich den falschen Knopf gedrückt hat. Den, der alle Tore öffnet. Jahrzehnte deutscher Teilung enden mit dem Verlesen eines Zettels. Es gibt ein Bild von der Pressekonferenz. Mit gestreifter Krawatte sitzt Schabowski neben seinem Aktenkoffer, vor ihm eine Reihe Mikrofone. Er ist auf diesem Foto einer, der zurückschreckt, als würden die Aufnahmegeräte ihn in die Enge treiben. Als hätte er das alles nicht mehr unter Kontrolle.

Danach kommen in den Geschichtsbüchern die Bilder mit den Sektflaschen, Trabischlangen an Grenzübergängen, Menschen auf der Mauer, freiheitsselige Gesichter. Das ist der 9. November im Gedächtnis der Deutschen: eine historische Wendung, die in diesem Moment die Stadt, das Land und die Welt überrascht. Es ist eine schöne Erinnerung. Aber eine mit Lücken. Die Mauer fiel sanfter, als heute viele denken. Apparatschiks Ost und Bürokraten West fingen die Wucht des Sturzes ab, eine ungewohnte Zusammenarbeit lange vor der Vereinigung, und eine nützliche.

Man muss vom 9. November aus genau elf Tage zurückspulen, um zu den Bildern zu gelangen, die im gemeinsamen Gedächtnis fehlen. Darauf ist wieder Günter Schabowski zu sehen. Diesmal sitzt er im Rosensalon des Ostberliner Palasthotels. 29. Oktober, das Mittagessen ist serviert. Unterm Fenster fließt die Spree vorbei. Um den Tisch haben sich Walter Momper, der Regierende Bürgermeister von Westberlin, einige Kirchenvertreter der DDR und der Bürgermeister von Ostberlin versammelt. Schabowski ist neu in der SED-Führung. Er erzählt den Westlern, was sich gerade ändert in der Partei nach Honeckers Abgang. Dann sagt er den Satz, der wie eine Revolution klingt: Wir werden eine Reiseregelung schaffen, die diesen Namen verdient.

Am Tisch hört auch Dieter Schröder die Ankündigung. Es werden Tausende in den Westen drängen, denkt er sofort. Aber wie viele genau?➤ FORTSETZUNG SEITE 20, 21

Als die Tore aufgingen

Fortsetzung von SEITE 17

Im September 2009. Das feine, gepunktete Tuch hat er sich akkurat um den Hals gebunden. Dieter Schröder nimmt im grünen Ledersessel der Lobby Platz. Er übernachtet immer in diesem Hotel am Ku’damm, wenn er zu Besuch in Berlin ist. Schröder wohnt in der Nähe von Rostock, wo er nach der Wende für die SPD Oberbürgermeister wurde. Seine Brille ist nur etwas weniger klobig als damals beim Treffen mit Schabowski. Als er davon erzählt, flüstert er fast. Seine Stimme kratzt. Die Worte reihen sich präzise aneinander, als diktierte er sie einer Sekretärin. „Schabowski war der erste Mensch aus der Führung der DDR, der normal sprach“, sagt er. „Das war schon bemerkenswert.“

Schröder ist Jurist und Politologe, doppelt promoviert, vor allem aber ist er ein Beamter. Leute wie Schabowski und Momper sind die Gesichter der Wendetage. Leute wie Schröder sind die Hirne dahinter. In den Siebzigern kümmert er sich in Berlin als Regierungsdirektor um Vier-Mächte-Angelegenheiten. Am Ende der Achtziger wird er unter Walter Momper Chef der Berliner Senatskanzlei. Er hat eine exakte Vorstellung von den Dienstwegen zwischen den Bürokratien von BRD und DDR, zwischen Bonn und Berlin, zwischen französischen, englischen, amerikanischen und russischen Kommandanten. Er ist wie gemacht für den Job, der an jenem Sonntag nach dem Mittagessen im Rosensalon auf ihn wartet: Der Mann, der Westberlin 1989 auf den Mauerfall einstellt.

Dass Schabowski am 29. Oktober die Reisefreiheit ankündigt, kommt für Schröder nicht unerwartet. Er ist gern vorbereitet und so weiß er auch diesmal schon Bescheid. Dank seiner Verbindung zu einem Kirchenmann, zu Manfred Stolpe.

Die letzten Tage der Deutschen Demokratischen Republik laufen. Schon seit September fliehen Massen von DDR-Bürgern über Ungarn und die Tschechoslowakei in Richtung Bundesrepublik. Anfang Oktober rufen auf Leipzigs Straßen zum ersten Mal 8.000 Menschen nach Freiheit. Die SED-Führung ist verunsichert. Sie stürzt den alten Erich Honecker. Egon Krenz, der neue Generalsekretär, spricht von einer Wende. Einen Tag nach Honeckers Sturz trifft sich Krenz mit den Mächtigen der evangelischen Kirche der DDR in einem Jagdschloss am Werbellinsee, eine Stunde nordöstlich von Berlin. Auch der Kirchenfunktionär Manfred Stolpe fährt am Mittag des 19. Oktober zum Schloss Hubertusstock.

Stolpe, später Regierungschef von Brandenburg, bewegt sich zu dieser Zeit als Konsistorialpräsident zwischen Kirche und Staat, zwischen Ost und West. Ihm machen die Demonstrationen im Land Sorgen. Manche sind niedergeknüppelt worden. Er fürchtet, dass die Gewalt eskaliert, dass geschossen wird. Die Kirche hat klare Forderungen an die SED, eine davon: Reisefreiheit. Was Krenz den Kirchenleuten nun in einem Zimmer des Schlosses bei einer Tasse Filterkaffee sagt, klingt für Stolpe wie eine Antwort darauf. Andere Meinungen sollen zugelassen werden, eine veränderte Wahlordnung sei geplant, die Wirtschaft müsse effizienter werden. Das Wichtigste aber: Die meisten Bürger werden reisen dürfen, ohne große Formalitäten, ohne kompliziertes Verfahren. Bis Weihnachten soll es so weit sein.

Stolpe hat erwartet, sagt er heute, dass Krenz auf die Kirche zukommen würde. Der Generalsekretär will Ruhe ins Land bringen, das wird ohne die Hilfe der Pfarrer nicht gelingen. Aber was er dann sagt, überrascht den Konsistorialpräsidenten doch. Reisefreiheit. Der Westberliner Senat muss informiert werden, denkt er. Dieter Schröder muss das erfahren.

Am 25. Oktober 1989 um 8 Uhr betritt ein Bote von Stolpe Schröders Büro im Rathaus Schöneberg. Stolpe ist das Scharnier zwischen den Beamtenapparaten in Ost und West, ein Mittler. Er hält Schröder auf dem Laufenden. Auch deswegen ist dem Spitzenbeamten klar, dass die Mauer dem Druck der DDR-Bürger nicht länger standhalten kann. Spätestens seit der Massenflucht über die Botschaften von Prag und Budapest wirkt sie für ihn wie ein marodes Betondenkmal für ein untergehenden Systems. Aber was werden die Sowjets sagen, die Alliierten? Wie wird die DDR-Führung reagieren?

Es ist eine Zeit der Ungewissheit. Schröder plant dagegen an. Sorgfältig sammelt er Informationen, die aus den Verwaltungsmaschinerien von DDR, BRD und Alliierten zu ihm fließen. Er versucht sich die Zukunft geordnet vorzustellen.

Im Umfeld des Regierenden Bürgermeisters entwerfen sie insgeheim sogar ein Szenario, das sie den „Sturm von hinten über die Mauer“ nennen. Wenn 600 oder 700 Todesmutige gemeinsam auf die Grenzanlagen zurennen würden, gäbe es eine schreckliche Schießerei. Irgendwann aber hätten die Soldaten keine Munition mehr. So lange, bis Nachschub käme, wäre die Mauer an der Stelle offen. Vielleicht für 20 oder 30 Minuten. Dadurch würde eine neue Massenflucht möglich. Und dann?

Die Nachricht, die er an diesem 25. Oktober von Stolpe bekommt, lässt solche Szenarien unwahrscheinlicher aussehen. Offenbar ist Krenz klug genug, einzulenken und weitgehend freies Reisen zu erlauben. Schröder lässt Stolpe fragen, ob sie die Mitteilung von der geplanten Regelung etwas offizieller bekommen können. Er hätte die Zukunft gern noch klarer. In derselben Woche diskutieren die Vertreter der Bundesländer in Düsseldorf darüber, wer für die Unterbringung der DDR-Flüchtlinge zahlen soll. Berlin ist voll. Der Senat hat Wohncontainer gemietet. Es gibt kaum noch Bauland, überall stehen die improvisierten Behausungen. Die Verwaltung überlegt sogar, auf Flächen zu bauen, die für Friedhöfe vorgesehen sind.

Als die Ministerpräsidenten in Düsseldorf verhandeln, vertritt Schröder den Regierenden Bürgermeister. Er wird ans Telefon gerufen. Stolpe. Er würde Momper gerne für Sonntag zum Mittagessen ins Palasthotel einladen, sagt er. Er werde sich dafür einsetzen, dass auch Schabowski kommt. Schröder sagt zu. Es wird wohl um die Reisefreiheit gehen.

Eigentlich müsste er die Alliierten über das Treffen informieren. Darauf verzichtet er. Es scheint ihm an der Zeit, dass der Senat Verantwortung für die Deutschlandpolitik übernimmt.

29. Oktober, Palasthotel. Schabowski kündigt beim Mittagessen im Rosensalon tatsächlich Reisefreiheit an. Schröder ist mit seiner Berechnung schnell fertig. Bis zu 500.000 Leute, schätzt er, könnten so aus der DDR nach Westberlin strömen. Sollen die alle durch den Grenzübergang Friedrichsstraße, den einzigen im Nahverkehrsnetz? Das würde stundenlanges Warten bedeuten.

Alles kommt ihm reichlich dilettantisch vor. Wie kann eine Staatsführung einfach so eine Regelung planen, ohne über die wichtigsten Folgen nachzudenken? Schröder beugt sich in Schabowskis Richtung: „Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es an Ihrer Grenze aussieht? Wie sollen denn die Leute da durchkommen?“ Es müssen Grenzübergänge geöffnet werden, schlägt er vor: Alexanderplatz, das würde die U-Bahn-Kapazitäten verdoppeln, dazu Rosenthaler Platz und Potsdamer Platz. Darüber habe er noch gar nicht nachgedacht, sagt Schabowski.

Schabowski macht ernst

Dann kommt der Augenblick, in dem Schröder merkt, dass sich jetzt wirklich etwas tut. Das jahrzehntelang Unvorstellbare ist greifbar.

„Könnten Sie mir das einmal aufschreiben“, bittet Schabowski. Und besser nicht auf dem offiziellen Weg schicken, sonst stünden wieder irgendwelche Kommentare von Bedenkenträgern dran. Am besten über Stolpe.

Damit hat Schröder nicht gerechnet: Einer der einflussreichsten Männer der DDR fordert ihn auf, wesentliche Informationen am Staatsapparat vorbeizuschleusen. Weil er den eigenen Beamten misstraut. An der Spitze dieses durchbürokratisierten Regimes gibt sich einer plötzlich völlig unbürokratisch.

Das ist ernst, denkt Schröder.

In seinem Kopf ordnen sich die neuen Aufgaben schon den Abteilungen und Unterabteilungen im Schöneberger Rathaus zu, den Senatoren und Staatssekretären, Direktoren und Referatsleitern. Wirtschaft, Verkehr, Inneres, Finanzen.

„Wenn du die Weihnachtseinkäufe ohne Gedränge erledigen willst“, sagt er am Abend zu Hause zu seiner Frau, „dann kümmer dich jetzt darum. Es könnte bald voll werden.“ Was planbar ist, sollte man regeln. So sieht er das. Auch privat.

Die Verkehrsbetriebe setzen auf den Smogalarmplan, um den Ansturm der Massen zu bewältigen

Er hat eine Vorstellung, wie sich Westberlin auf den Ansturm der DDR-Bürger vorbereiten muss. Er will, dass es touristisch läuft, nicht über die Sozialverwaltung. Sie dürfen sich auf keinen Fall wie Bittsteller fühlen. Für Tourismus ist Jörg Rommerskirchen zuständig, Staatssekretär beim Wirtschaftssenator.

Juni 2009. Im Café stellt Rommerskirchen sein Aktentäschchen auf den Tisch. Er trägt ein gelbes Hemd von Lacoste, helle Hosen und eine halbierte Lesebrille. Auf seiner privaten Visitenkarte steht Staatssekretär A.D. Er sieht sommerfrisch aus, freundlich, und irgendwie auch nach einem Westberlin, das es seit knapp 20 Jahren nicht mehr gibt. Er wollte eigentlich präpariert erscheinen. Er habe den ganzen Sonntag lang nach den Protokollen der Arbeitsgruppe gesucht, sie aber leider nicht gefunden.

Es ist normalerweise überhaupt nicht seine Art, Dinge zu verlegen. Jetzt muss er sich eben ohne Akten erinnern. Rommerskirchen rückt seine Brille zurecht und erzählt.

Bevor ihn der SPD-Wirtschaftssenator 1989 als Staatssekretär nach Berlin holte, hat Rommerskirchen in Hamburg das Amt für Hafen, Schifffahrt und Verkehr geleitet. Der Hafen war für den Handel mit der DDR zentral. Er ist damals oft nach Warnemünde, Rostock, Wismar gefahren, nach Leipzig zur Messe, nach Dresden, und Ostberlin. „Ich war DDR-Kenner“, sagt er.

Rommerskirchen ist wie Schröder vor allem eines: Beamter aus Überzeugung. Sein Vater war Bundestagsabgeordneter für die CDU. Ihn selbst beeindruckt Willy Brandts Ostpolitik vom „Wandel durch Annäherung“ so sehr, dass er mit der Familientradition bricht und in die SPD eintritt. Er beschließt früh, kein Politiker zu werden. Er will die Dinge wirklich in die Hand nehmen. Dafür, glaubt er, muss er in die Verwaltung. Politiker reden, Beamten regeln.

Er wird Kabinettsprotokollant in Hessen. Nach Sitzungen liegen seine Mitschriften am nächsten Morgen um neun Uhr auf den Schreibtischen – auch wenn er tippen muss, bis es hell wird.

31. Oktober 1989. Die Regierung von Westberlin beschließt „die Einsetzung einer Projektgruppe zur Vorbereitung auf einen verstärkten Besucher- und Reiseverkehr aus Ost-Berlin und aus der DDR“. Rommerskirchen soll sie leiten. Für den Neuen eine Chance. Er lädt sofort zur ersten Arbeitssitzung, gleich am nächsten Tag.

Die Gruppe tagt im Haus der Wirtschaftsverwaltung, direkt unterm Dach. Der Staatssekretär treibt zur Eile an. Er will Ergebnisse. Weihnachten ist zwar noch einige Wochen hin, aber wer weiß schon, was in der DDR passiert. Verwaltungen brauchen Zeit, bis die Vorlagen die Kürzel aller zuständigen Abteilungsleiter tragen. Er legt fest: Einstimmige Beschlüsse sind nicht nötig, es reichen Mehrheitsentscheidungen. Sie diskutieren, worauf es ankommt.

Die Berliner Verkehrsbetriebe müssen sich vorbereiten, damit die U-Bahnen und S-Bahnen nicht überfüllt stecken bleiben. Die Ostler brauchen richtige Karten, in ihrem Stadtplan ist Westberlin nur ein weißer Fleck, sie müssen wissen, dass sie gratis mit der BVG fahren dürfen. Man muss sie warnen, dass sie sich fürs Begrüßungsgeld keinen Quatsch andrehen lassen. Es werden mehr Unterkünfte gebraucht. Auch die Westberliner müssen vorbereitet werden. Die Stadt ist voller Flüchtlinge. Es darf zwischen Westlern und Ostlern auf keinen Fall Ärger geben. Ein Papier des Presseamts sieht vor, in der Bevölkerung ein „positives Bewusstsein“ zu wecken. Momper müsste einen Brief an alle Berliner schreiben. Die PR-Leute sollen eine Zeitungsanzeige formulieren und Begrüßungsplakate entwerfen.

Die Schlüsselfrage ist aber: Wie viele Leute werden überhaupt kommen? Schröder hat vorgeschlagen, mit einem Kirchentag zu rechnen, „100.000 plus“, sagt er seinen Staatssekretären. Er glaubt eher an 500.000, aber wenn er das sagt, halten die ihn für verrückt, fürchtet er. Der Senat beschließt, den Journalisten gegenüber von 100.000 Besuchern zu sprechen und sich tatsächlich auf 300.000 vorzubereiten. Rommerskirchen sagt: „Wir haben den Senat nicht zu korrigieren, aber lasst uns besser 500.000 nehmen.“ Im Grunde sind sich die beiden Beamten Schröder und Rommerskirchen einig. Wer mit dem Schlimmsten rechnet, ist auch im günstigsten Fall gut vorbereitet. Sie sind vorsichtig.

Schröder lässt die Liste mit den zusätzlichen Grenzübergängen über Stolpe zu Schabowski schicken. In seinem Büro läuft in diesen Tagen immer leise das Radio. Es könnte jeden Moment etwas passieren. Der Senatskanzleichef verfasst einen Brief an den Kanzler, den Momper am 6. November unterzeichnet. Neue Übergänge müssten geöffnet werden, die BRD müsse Kontakt mit der DDR aufnehmen, man müsse Eisenbahnzüge bereitstellen und endlich dieses Begrüßungsgeld regeln.

Im Bonner Kanzleramt von Helmut Kohl scheint der Brief in irgendeiner Posteingangsmappe stecken zu bleiben. Oder er wird geprüft. Intensiv. Niemand reagiert.

Am 6. November veröffentlicht das Neue Deutschland auf zwei Seiten zum ersten Mal das geplante Reisegesetz. Es liest sich nicht wie Reisefreiheit. In dem Entwurf beschränkt eine Einschränkung die nächste.

Die Massen gehen dagegen auf die Straße. Die SED-Spitze sieht ein: Der Entwurf muss überarbeitet werden, sonst bringt er keine Ruhe.

Die Westberliner Zeitungen haben in der Zwischenzeit berichtet, was der Senat plant. „Alles überlegt: Wie erleichtern wir unseren Landsleuten den Aufenthalt bei uns“, fragt die B.Z. „Als ob die Mauer nur noch Geschichte sei“, titelt die taz. „Lasst bitte eure Trabis zu Hause“, plärrt die Bild-Zeitung. Wie viele Leute passen ins KaDeWe?

Außerhalb von Berlin nimmt kaum jemand Notiz.

Planen für den Ansturm

Am 8. November trifft sich die Rommerskirchen-Gruppe zum zweiten Mal. Als die Beamten festlegen wollen, wie viele Tonnen Papier für die Informationsbroschüren bestellt werden müssen, steht der Vertreter des Finanzsenators auf. Was der Wirtschaftsstaatssekretär da gerade anweise, sei vom aktuellen Landeshaushalt nicht gedeckt. Rommerskirchen schaut zum Protokollführer: „Das notieren Sie bitte sorgfältig und sie protokollieren bitte auch, dass wir beschließen, genau dies zu tun.“

Am Abend lässt der Chef 40 Bockwürste holen. Zur Stärkung. Sie tagen bis in die Nacht. Die BVG hat mitgeteilt, dass sie mit dem Smogalarmplan den ersten Ansturm abfangen könnte. Rommerskirchen hat den Eindruck, es geht voran. Er macht Tempo.

„Es gab mal eine Zeit“, sagt Schröder in der Hotellobby im September 2009, „in der die Berliner Verwaltung blitzschnell gearbeitet hat.“

Schröder ist wie gemacht für den Job: Westberlin auf die Öffnung der Mauer vorbereiten

Am 9. November steht in der Berliner Morgenpost, dass der Verkehrssenator überlegt, den Ku’damm zu schließen, wenn die DDR-Bürger kommen. Um 12 Uhr trifft sich im Reichstag die Kommission „Arbeitsplätze für Berlin“. Walter Momper leitet sie. Jörg Rommerskirchen hat einen Pilotenkoffer voller Arbeit mitgebracht und blättert sich am Rand durch einen Stapel Akten. Ein Saaldiener kommt und bittet ihn ans Telefon. Sein Bekannter Peter Brinkmann, ein Bild-Zeitungsredakteur, lässt ihm ausrichten: Die Krenz-Leute sprechen über Reisefreiheit, das wird heute noch ganz ernst. Rommerskirchen geht zu Momper und flüstert ihm von hinten ins Ohr: „Walter, da passieren heute noch ernsthafte Dinge.“ Der Regierende dreht sich um: „Verbürgst du dich für die Quelle?“ Der Staatssekretär überlegt. „Ja“, sagt er. Momper wendet sich zum Verkehrssenator, der neben ihm sitzt: Er solle die BVG informieren, dass sie sich zumindest auf einen Wochenendnachtverkehr vorbereitet. Keiner weiß genau, was jetzt folgen wird. Der Senatssprecher entwirft eine Zeitungsanzeige, die die Berliner ermuntern soll, sich auf die DDR-Besucher zu freuen.

Während sie in Westberlin diskutieren, liest in Ostberlin Schabowski auf seiner Pressekonferenz die Regelung vor, die „sofort, unverzüglich“ in Kraft trete. Ein Fotograf der Deutschen Presseagentur schießt das Bild, das später die Erinnerung prägt.

Die Grenze ist offen

Schröder ruft den Senat zu einer Sondersitzung um 22 Uhr zusammen. Es ist eine Ausnahmesituation, die strukturiert werden muss. Es gibt dafür Institutionen.

Um 19.30 Uhr tritt Momper in der „Berliner Abendschau“ auf. Er sagt, das sei ein Tag der Freude: „Alle DDR-Bürger können zu uns kommen und uns besuchen.“ An den Grenzübergängen bilden sich Trabischlangen.

Gegen zwei Uhr nachts steht Dieter Schröder an der Invalidenstraße, sieht den Sekt fließen und beobachtet, wie ein britischer Militärpolizist, ein Berliner Beamter und ein DDR-Grenzer gemeinsam den Autoverkehr regeln.

Berlin ist präpariert, vielleicht nicht sehr gut, aber mindestens ausreichend. Am nächsten Tag wird Schabowski Schröder die genehmigte Liste mit den neuen Grenzübergängen bringen lassen. Der Spitzenbeamte wird sie für Walter Momper kopieren und der wird sie dem Außenminister Hans-Dietrich-Genscher geben, damit er sie vor dem Schöneberger Rathaus verlesen kann. Die Menschenmenge wird jubeln. In der Nacht zum 11. November werden die Infoblätter gedruckt werden. Die U-Bahnen und S-Bahnen werden fahren, völlig überfüllt, aber ohne Unterbrechungen. Selbst die Sache mit dem Begrüßungsgeld wird funktionieren, ohne Bonner Hilfe. Sie haben das mit den Banken geregelt.

Am ersten Wochenende werden zwei Millionen Menschen nach Berlin strömen. Viermal 500.000. Alles können Beamte auch nicht berechnen.

Rommerskirchen lässt sich am Abend des 9. November von seinem Fahrer zur Bornholmer Straße bringen. Als der BMW im Verkehr stecken bleibt, läuft er zur Grenze. Rommerskirchen ist gerührt. Seine Frau stammt aus Thüringen. Das hier fühlt sich wie Wiedervereinigung an. Er fährt trotzdem bald nach Hause.

Der 10. November ist der Tag, an dem Willy Brandt am Brandenburger Tor verkündet, dass jetzt zusammenwächst, was zusammengehört.

Um sechs Uhr morgens sitzt Jörg Rommerskirchen im Büro.

Johannes Gernert, 29, wohnt in Berlin nahe dem ehemaligen Grenzübergang Bornholmer Straße

Ein Interview mit dem früheren Bürgermeister Momper unter www.taz.de/momper