: Tödliches Lustprinzip
Die männchenfressende Gottesanbeterin fasziniert Kunstschaffende seit jeher. Das Künstlerduo M+M hat den unheimlichen Sex- und Fressakt nun in 3-D gefilmt
Von Bettina Maria Brosowsky
Die Europäische oder Gemeine Gottesanbeterin, oder Mantis religiosa, ist ein in Mitteleuropa heimisches, bizarres Insekt, das zur Ordnung der Fangschrecken gehört. Von skurrilem Körperbau, mit langen Extremitäten, kann das weibliche Exemplar dieses intensivgrünen Tierchens siebeneinhalb Zentimeter groß werden. Das männliche ist deutlich kleiner und mitunter nicht ganz so schön in der Färbung. Die Gottesanbeterin war Insekt des Jahres 2017, ihr Bestand gilt in Deutschland als gefährdet, sie genießt besonderen Schutz und darf weder gefangen noch gehalten werden.
Das Insekt fasziniert Kunstschaffende schon lange, denn es zeigt bemerkenswerte Eigenschaften. So verharrt es ausdauernd völlig unbeweglich in der Vegetation, ist durch seine Gestalt, die an Blätter, Zweige oder Astwerk erinnert, bestens getarnt, um dann blitzschnell seine Beute zu ergreifen. Dazu zählen Insekten oder kleine Tiere bis zur Größe eines Jungvogels. Die französischen Theoretiker des Surrealismus, André Breton und Roger Caillois, hielten in den 1930er-Jahren beide eine Gottesanbeterin als Studienobjekt, um vermeintlich anthropomorphe Verhaltensqualitäten genauer zu erkunden. Vor allem aber interessierte sie eine zutiefst abgründige Auffälligkeit im Sexualverhalten: In der Regel tötet das Weibchen das männliche Tier nach dem Paarungsakt, indem es ihm den Kopf abbeißt – genauso impulsiv wie seiner sonstigen Beute. Aber nicht nur das: Meist frisst es dann seinen toten Partner, vielleicht ein nährstoffreicher Labsal vor dem anschließenden Kraftakt der Eiablage.
Diese blutrünstige Szene lässt das deutsch-luxemburgische Künstlerduo M+M – das sind Martin De Mattia und Marc Weis, 1963 sowie 1965 geboren – nun eine Gottesanbeterin für ein Video vollführen. Wie M+M den Tierschutz umgangen haben, sei nicht gefragt, auch nicht, ob der temporäre Lockdown in einer miniaturisierten, piefig bürgerlichen Altbauwohnung in etwa einer Schuhkartongröße das Aggressionspotenzial des Insekts zusätzlich beflügelte. Der Lustmord findet dort im Schlafzimmer statt, ganz theatralisch derangiert der Sterbende dabei noch ein wenig das Puppenstubenmobiliar.
An zwei Tagen vom M+M gedreht, ist der nur eine Handvoll Minuten dauernde Horrorfilm „Mad Mieter“ derzeit im Sprengel-Museum zu sehen. Präsentiert als 3-D-Produktion ist die Plastizität des schrecklichen Geschehens nochmals gesteigert, fast physisch eindringlich erlebbar. Aber natürlich geht es den Künstlern nicht um ästhetische Effekthascherei: Seit Sigmund Freuds Abhandlung „Jenseits des Lustprinzips“ wissen wir um die menschliche Triebstruktur, das Gegensatzpaar von Liebe und Tod, Eros und Thanatos, ein Lebensbegriff, der denk- und gefühlsnotwendig auch das Sterben beinhaltet. Die Gottesanbeterin dient hier als animalische Antagonistin zur zivilisatorisch gebändigten menschlichen Gewaltnatur.
Mit dieser psychoanalytischen Fährte erscheint das Werk des Duos auf profunder Basis, erhält kulturtheoretischen Unterbau. Vor ihrer künstlerischen Praxis haben De Mattia und Weis in München Kunstgeschichte studiert und sind bestens in der Filmhistorie bewandert. Beide waren Kommilitonen von Reinhard Spieler, Direktor im Sprengel-Museum. Er hat nun zusammen mit dem Münchener Museum Villa Stuck die Ausstellung konzipiert, in deren Zentrum der große, siebenteilige Filmzyklus „7 Tage“ steht – die Arbeit daran wiederum dauerte fast sieben Jahre.
Während für den Insektenmord das Filmwerk Roman Polanskis Pate stand, müssen für „7 Tage“ gleich eine ganze Menge Filmklassiker herhalten. Als Synchronerzählungen in großformatiger Doppelprojektion wurden Szenen der Referenzwerke mit einem männlichen und einem weiblichen, einem jungen oder einem alten Gegenüber des Hauptdarstellers Christoph Luser reinszeniert. Die dienstägliche Nassrasur im „Salon Botticelli“ wird so zu einem erotisch sinnlichen Erlebnis oder birgt, wenn von einem männlichen Barbier ausgeführt, ein lebensbedrohliches Risiko. Die Dialoge, in diesem Fall aus Patrice Lecontes Film „Der Mann der Friseuse“ von 1991, werden zeitversetzt gesprochen, entfalten im jeweiligen Kontext höchst unterschiedliche Wirkungen. Aber nicht in allen der insgesamt acht Filmepisoden, das sei verraten, gerät die Männlichkeit in existenzielle Gefahren.
„M+M. Driven by Distraction“:
bis 20. 9., Sprengel-Museum, Hannover
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