Justiz in Türkei: Nicht auf Erdogan-Linie

In türkischen Städten gehen Rechtsanwält*innen auf die Straße. Sie protestieren gegen einen Gesetzentwurf, der sie empfindlich schwächen würde.

Menschen mitMundschutz bei einer Protestveranstaltung.

Protest von AnwältInnen am 30. Juni vor dem Justizministerium in Istanbul Foto: Murad Sezer/reuters

ISTANBUL taz | Wir lassen uns nicht spalten!“ „Für eine unabhängige Justiz!“ Landesweit gehen Anwält*innen in der Türkei in diesen Tagen auf die Straße, um gegen einen Gesetzesentwurf zu protestieren, den die regierende AKP auf Anweisung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Dienstag im Parlament einbrachte.

Das wäre „der letzte Sargnagel für eine unabhängige Justiz“, sagte der Vorsitzende der Istanbuler Anwaltskammer, Mehmet Durakoğlu am Dienstag bei einer Großkundgebung in Istanbul. „Das müssen wir verhindern.“

Der Entwurf hört sich erst einmal unschuldig an. Danach soll es künftig möglich sein, dass Anwält*innen, die mit der Anwaltskammer nicht zufrieden sind, eine eigene Berufskammer gründen können. Das Monopol der Anwaltskammer soll so gebrochen werden.

Hintergrund dieses Gesetzes ist, nach den Richter*innenn und Staatsanwält*innen jetzt auch die Anwält*innen auf Linie zu bringen. Denn bislang sind die Anwaltskammern als Berufsverbände der Rechtsanwält*innen die letzte Institution innerhalb des Justizsystems, die sich noch gegen eine absolut willfährige Gerichtsbarkeit stellt.

Stimme mit Gewicht

Die Türkei hat 81 Anwaltskammern, für jede Provinz eine eigene. Die Kammern vergeben die Rechtsanwaltslizenzen und ihre Kammervorstände sprechen für alle Anwälte des Landes. Bislang ist es der AKP nie gelungen, bei den Wahlen zu den Kammervorständen zu gewinnen. Erdoğan-kritische Anwält*innen stellen überall die Mehrheit.

Die Anwaltskammern sprechen für alle Anwält*innen des Landes, ihre Stimme hat Gewicht. Genau das soll relativiert werden. Gibt es viele konkurrierende Berufsverbände, kann die Regierung immer mit dem Verband zusammenarbeiten, der ihm politisch nahe steht.

Seit Wochen laufen die Anwält*innen der Türkei Sturm gegen dieses Gesetz. Vor zwei Wochen organisierten sie einen Marsch auf Ankara, den die Polizei gewaltsam stoppte. Seitdem wird vor den Gerichten in den jeweiligen Provinzen demonstriert. Am Montag im Süden in Mersin und Adana, im Westen in Izmir. Am Dienstag in Istanbul, mit einer Großdemonstration, die, wie der Vorsitzende Mehmet Durakoğlu sagte, „in die Geschichte eingehen wird“.

Unterstützt werden die Anwaltskammern von anderen Berufsverbänden, die fürchten, als nächste an der Reihe zu sein. In der Türkei sind die Berufsverbände wichtige Stimmen der Zivilgesellschaft.

Lange Tradition

So stellen sich progressive Architekten- und Ingenieurs­kammern immer wieder gegen unsinnige Großprojekte der Regierung oder unterstützen Umweltaktivist*innen, die gegen drohende ökologische Desaster protestieren.

Da diese Berufsverbände in der Türkei eine lange Tradition als Teil der Republik haben, lassen sie sich nicht so leicht kriminalisieren und zu „Terroristen“ abstempeln, wie das anderen Oppositionskräften passiert.

Es ist daher kein Zufall, dass diese Berufsverbände im Kern gegen die populistische-islamistische Politik der Erdoğan-Regierung stehen. Sie gehören zum aufgeklärten städtischen Bürgertum, das von der AKP massiv bedroht wird. Die Protestierenden wissen, dass mit den Anwaltskammern eine der letzten Bastionen des Rechtsstaates und der engagierten laizistischen Zivilgesellschaft fallen würde.

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