piwik no script img

Nach der Welle ist vor der Welle

In Schleswig-Holstein ist man Stolz auf die Offenheit im deutsch-dänischen Grenzgebiet. Damit war zwischenzeitlich Schluss. Mit den Erfahrungen von heute wird man beim nächsten Mal einiges anders entscheiden. Über den Umgang mit der Pandemie im ländlichen Raum

Von Dierk Jensen

Die Flensburger wollten in diesem Jahr das 100-jährige Jubiläum der Volksabstimmungen im deutsch-dänischen Grenzgebiet feiern. Der neue Grenzverlauf kurz nach dem 1. Weltkrieg war eine Zäsur, hat sich in den letzten Jahrzehnten aber als vorbildliches Beispiel entwickelt: offene Grenzen und deutsch-dänische Zusammenarbeit auf kultureller, politischer und wirtschaftlicher Ebene. Diese offene Grenze wurde am 14. März „im Kampf gegen Corona“ dichtgemacht.

Nahe dieser Grenze betreibt der Allgemeinmediziner Michael Weiß mit drei Kollegen eine Gemeinschaftspraxis, im 2.000-Seelen-Ort Gelting in Sichtnähe zu Dänemark. Anfang Juni, bei anhaltend niedrigen Fallzahlen im nördlichsten Bundesland, ist nach Wochen des Ausnahmezustandes wieder so etwas wie Alltag in die Praxis eingekehrt.

„So langsam haben wir annähernd die Patientenzahlen wie wir sie vor der Pandemie hatten“, berichtet der 53-Jährige. „Im April kam fast keiner mehr, es gab für uns kaum noch etwas zu tun.“ Bis Ende März fehlte es zudem noch an Schutzausrüstung: Masken, Brillen und Schutzkitteln.

„Wir haben ungefähr 2.500 Patienten. Rund 1.500 kamen vor der Pandemie in unsere Praxis, nachdem Lockdown waren es an manchen Tagen um die 15“, erzählt Weiß. „Wir haben uns dann einfach gedrittelt“, erklärt er. „Einer hat mit unserem Weiterbildungsassistenten den Normalbetrieb aufrechterhalten, einer die Infektsprechstunde abgehalten und ein Arzt sowie eine Helferin sind zu Hause geblieben, um einspringen zu können, wenn jemand in Quarantäne gemusst hätte.“ Untereinander hatte das so getrennte Personal keinen Kontakt.

Die nächste Praxis ist weit

Die größten Sorgen machten sich Weiß und sein Team, was wäre, falls ihre Praxis hätte tatsächlich schließen müssen, wenn einer von ihnen sich infiziert hätte. Dann wäre für die Menschen im näheren Einzugsgebiet die einzige medizinische Anlaufstelle weggefallen, sodass bei Verdacht die Betroffenen größere Distanzen zur nächsten Praxis hätten zurücklegen müssen. Aber dieser Fall ist nicht eingetreten. Welches Zwischenfazit er aus der Perspektive eines schleswig-holsteinischen Landarztes zieht? „Ich weiß nicht, ob man wirklich flächendeckend alles hätte so runterfahren müssen, aber offenbar ist vieles richtig gemacht worden, sind wir doch glimpflich davon gekommen“, resümiert er. Trotzdem rätselt er darüber, wieso es plötzlich so viel weniger Notfälle wie beispielsweise Infarkte als gewöhnlich gab? „Keiner wollte mehr sterben“, stellt er achselzuckend fest.

„Es geht eben um Leben und Tod“, sagte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet mehrmals. Von einem wie Hans-Joachim Commentz hört man einen solchen Satz eher nicht – zu dramatisch. Er ist seit vielen Jahren Notdienstbeauftragter der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) und war in den letzten Wochen so etwas wie der Pandemiekrisenmanager in den Reihen der schleswig-holsteinischen Ärzteschaft. An jedem Freitag nahm er an den Krisensitzungen im Kieler Gesundheitsministerium teil, um über die jeweilige Strategie zur Bewältigung der Pandemie zwischen Hamburg und dänischer Grenze zu beraten und zu entscheiden. „Wir hatten gegenüber dem Süden der Republik den Vorteil, dass wir zwei Wochen mehr Zeit hatten, uns vorzubereiten“, konstatiert der 74-Jährige. Und den habe man seinen Worten nach auch intensiv genutzt, was sich in relativ geringen Fallzahlen niedergeschlagen habe.

So hat man die großen Krankenhäuser für den erwarteten Ansturm von Covid-19-Patienten zeitig freigeräumt. „Dann haben wir landesweit Teststellen in Containern eingerichtet, wo wir potentiell Infizierte testeten.“ Die positiv Getesteten wurden über eine personell aufgestockte Telefonzentrale zweimal täglich angerufen, um deren aktuellen Gesundheitszustand zu ermitteln. Dadurch konnten Infizierte rechtzeitig mit geeigneten Mitteln behandelt und damit in vielen Fällen eine intensivmedizinische Betreuung mit Beatmungsgeräten vermieden werden. „Darüber haben sogar japanische Medien berichtet“, freut sich Commentz über eine Herangehensweise, die von großer Übereinstimmung aller Beteiligten, ob nun Politik, Gesundheitsämtern und Ärzten, geprägt waren.

Lokal fokussiertes Handeln

Die Ansicht, dass das medizinische System auf dem Land bei einer noch heftigeren Pandemiewelle schneller überfordert worden wäre als in Städten, teilt Commentz daher nicht. Vielmehr sei lokal fokussiertes Handeln in Zukunft erforderlicher denn je. Dabei räumt er eigene Fehleinschätzungen ein: „Ich bin als Pandemiebeauftragter der Kassenärztlichen Vereinigung im Dezember gefragt worden, ob die abgelaufenen Masken aus der Zeit der Schweinegrippe jetzt entsorgt werden sollen“, erinnert er sich: „Ja“, habe ich damals gesagt, „was sollen wir denn damit?“ Diese Entscheidung würde er nach der Erfahrung der letzten Wochen anders treffen. So hat Schleswig-Holstein jetzt eine Lagerhalle für medizinische Schutzmaterialien angemietet, von einem Logistiker professionell betreut. Nach der Welle ist vor der Welle, weiß man im Land zwischen den Meeren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen