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Unterm gottlosen Himmel

Ohne Masken und Gefälligkeits­befürfnis: Das Junge Schauspielhaus in Hamburg spielt wegen Corona Jugendtheater im Stadtpark. Dort gelingt Janne Tellers Sinnsuche-Drama „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ sogar noch eindringlicher

Von Jens Fischer

Sportkanonenartige Wesen rasen zwischen den Rhododendren im Wald des Hamburger Stadtparks herum. Ein sanft vor sich hin ratternder Stromgenerator, flatterndes Absperrband und vier Dixiklos weisen am Heckentheater-Rondell darauf hin, dass dort etwas Märchenhaftes passiert. Zwölf Wochen nach dem Verbot öffentlichen Theaterspielens versammeln sich Menschen in Kuschel- und Tuschelgruppen ihrer Haushaltsgemeinschaft in froher Erwartung, dass endlich Künstler wieder wirklich live vor leibhaftigen Zuschauern ein soziales, ästhetisches, intellektuelles, emotionales Erlebnis in einmaliger Atmosphäre ermöglichen.

Das Junge Schauspielhaus Hamburg hat es als erstes Theater in Norddeutschland geschafft, nach den Lockdown-Lockerungen die Inszenierung eines kompletten Stücks zu spielen – ohne Plastikhandschuhe, ohne Mund-Nasen-Bedeckung, ohne Glas- oder Plastiktrennwände. Einfach draußen im Park. An Nachmittagen des Wochenendes steht „Ein Schaf fürs Leben“ von Gertrud Pigor für Menschen ab fünf Jahren, anschließend der Jugendbuchklassiker „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ auf dem Programm.

Die Abendsonne lässt dann die Baumwipfel erglühen, ein babylonisches Vogelgezwitscher wird nur durch Flugzeuge vom Flughafen im benachbarten Fuhlsbüttel gestört. Von Hecken gerahmt und mit Rasen überwuchert ist das vierstufige Rundtheater. Die Künstler belassen alles wie vorgefunden, haben einfach nur die Hälfte des Areals mit Ästen als Spielfläche abgegrenzt, kein Licht wird aufwendig gesetzt, kein Bühnenbild, nur eine Mikroport­anlage mit Lautsprechern aufgebaut – für die bessere Verständigung und Musikzuspielung.

In „Nichts“ geht es um alles oder nichts: Warum ist überhaupt irgendetwas und nicht vielmehr nichts? Und was ist davon wesentlich? Was motiviert uns, morgens aufzustehen, warum bleiben wir nicht einfach liegen? So wie Pierre-Anthon, ein 14-jähriger Existenzialist, der sich dem „sinnlosen Spiel“ menschlichen Strebens verweigert und zum Genießen des Nichts auf einen Baum zurückzieht: „Lieber im Nichts sitzen als in etwas, was nichts ist!“

„Nichts“ ist ein Repertoire-Hit. Schon über 50 Vorstellungen gab es in fünf Jahren. Regisseur Klaus Schumacher erzählt, es sei bereits die dritte Besetzung am Start. Warum er seine Inszenierung so schnell an die aktuellen Beschränkungen adaptieren durfte? „Ich fand diesen Ort schön, habe daher früh beim Bezirksamt angefragt“, sagt Schumacher. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten machte man dort keine Probleme, sondern einfach alles möglich, nachdem ein zwölfseitiges Hygienekonzept vorlag.

Die Ticketnachfrage für die Juni-Termine war sofort riesig, im Juli wird es aber keine weiteren geben, um die Nachfrage zu befriedigen, sagt Schumacher – denn dann seien halt Sommerferien angesetzt und der Betriebsrat achte darauf, dass die Schauspieler die auch bekommen. Aber in der nächsten Spielzeit soll es eine Wiederaufnahme im Park geben.

Vorbildlich, wie dort das Arrangement der Sitzmöglichkeiten für jede Vorstellung individuell gestaltet wird. Wenn Eltern mit drei Kindern erscheinen, werden fünf Klappstühle zusammengestellt, anderthalb Meter daneben vielleicht ein Ehepaar platziert, im gleichen Abstand dann ein Einzelzuschauer – bis alle 50 Plätze weg sind. Mehr ist nicht erlaubt.

Janne Tellers Roman hat Schumacher vierstimming arrangiert, in der Theaterfassung von Andreas Erdmann. Ein chorisch agierendes Darstellerquartett wechselt nach fast jedem Satz die Sprecherrolle und damit auch die Positionierung auf der Bühne, gleitet dabei aus dem spielerischen Erzählen immer wieder ins erzählende Spielen. Szenen werden angespielt, Figuren selten plastisch ausformuliert.

Aber das Ensemble wirkt frei in der Darstellung und Artikulation bis hin zum Schrei, muss im Miteinander aber den Abstandsgeboten folgen, sodass die Gruppenchoreografie wie ein Coronaballett aussieht: Alle gehen aufeinander zu wie gleich gepolte Magnete, bis die Abstoßungskräfte beim gesetzlichen Grenzwert so groß sind, dass das Arrangement in einer neuen Konstellation aufgelöst werden muss.

Die Sehnsucht nach etwas Absolutem ist als die Geburt des Fanatismus zu erleben. Am Ende stehen alle so klug da als wie zuvor

Sehr schön kontrastiert dieses abgezirkelte Spiel den Wirrwarr der drumherum sprießenden Natur – in der Indoor-Version bildete es eine Einheit mit dem artifiziellen Setting eines sterilen Kunstraumes, in dem ein Baumstamm als Sitzbank herumschlenkerte, daran befestigt war ein TV-Kasten, in dem die Hauptfigur Pierre-Anthon als Videofigur agierte. In der Vorlage hatte er sich auf einen Pflaumenbaum zurückgezogen. Jetzt im Park wird er irgendwo in den Baumkronen sitzend angespielt und verkündet aus dem Off seinen Nihilismus.

Je länger die Aufführung dauert, je weiter die Luft im Open-Air-Theater abkühlt, desto näher kommt die Handlung dem Tod. Pierre Anthon wird verprügelt und in einer Feuersbrunst geopfert. Nun geht es in „Nichts“ um alles. Denn die nihilistischen These trifft seine Mitschüler im Herzen ihres selbst gehegten, in Coronazeiten vielleicht umso bedrohlicher wirkenden Verdachts: Die kindlichen Gewissheiten sind dahin und Werte der Erwachsenen aus Pubertätsgründen abzulehnen – was also tun gegen die Angst vor dem schwarzen Loch der Sinn-Leere?

Als Gegenentwurf häufen die Jugendlichen einen Berg der Bedeutung auf, fordern gegenseitig, sich von dem zu trennen, was ihnen besonders wichtig ist. Die Bedeutung steigt, je tränenreicher der Verlust erlebt wird. Erst landet nur ein Paar Lieblingsschuhe auf dem Berg, dann ein Tagebuch. Dem besten Gitarrenspieler der Klasse wird bereits ein Finger amputiert, der Hund eines Mädchens geköpft.

Nicht witzig, wie dieser Kreislauf aus Gruppenzwang und Aggressionen eine fatale Eigendynamik gewinnt. Die Sehnsucht nach etwas Absolutem ist als die Geburt des Fanatismus zu erleben. Am Ende stehen alle so klug da als wie zuvor. Messerscharf ist die irrlaufende Sinnsuche gedacht. Welche Bedeutung dem Leben abzutrotzen ist, diese Frage scheint unter dem freien, gottlosen Himmel noch drängender als im Theater verhandelt zu werden. Mit fertigen Antworten idealistischer Welterklärungsmodelle prunkt aber niemand. Derart ohne Gefälligkeits- und Harmoniebedürfnis mit Theater aus der Coronapause zu kommen – das beeindruckt.

„Nichts. Was im Leben wichtig ist“: Hamburg, Stadtpark, ab 13 Jahre. Restkarten gibt es für die Vorstellungen am So, 14. 6. und So, 21. 6., 19 Uhr. In der nächsten Spielzeit soll es eine Neuauflage geben

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