„Die Pest“ am Deutschen Theater Berlin: Das menschliche Handeln

Die Gegenwart verändert die Kunst. Das erlebt man in Berlin am Stück „Die Pest“, das ein Schauspieler durch ein leeres Haus nach draußen trägt.

Stühle mit Abstand stehen vor einer kleinen Bühne draußen vor einem Theater.

Vorbereitung der Open Air Bühne für „Die Pest“ vor dem Deutschen Theater in Berlin. Foto: Barbara Braun/Drama

Der Ventilator fehlt auf der Bühne, die auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters steht, und dann fehlt er doch nicht. Wer „Die Pest“ in der Box des DT, die am 15. November 2019 Premiere hatte, gesehen hat, erinnert sich an den langen Augenblick, als Božidar Kocevski aus einem schwarzen Sack Unmengen von dunklen Papierstreifen nimmt und sie gegen den Ventilator schleudert. Immer mehr davon verfangen sich in dem Gerät, bis der Ventilator bedeckt ist von einer schwarzen Schicht, die klebrig, unansehnlich und so eklig erscheint.

Das Bild von der Asche der verbrannten Pesttoten, von Fliegen, die summen, und der Hitze in der algerischen Küstenstadt Oran ist jetzt im Kopf. Als Kocevski später an seinem ausgestreckten Arm einen Kinderstuhl hält und hält, es Asche auf den Stuhl regnet, sieht man ein Kind sterben und spürt es physisch.

„Die Pest“ auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters in Berlin, wieder am 12. 6., 13. 6., 15. 6. und 16. 6., jeweils um 20.30 Uhr.

András Dömötörs Inszenierung nach Albert Camus’ Roman, in dem er beschreibt, wie in Oran mitten im 20. Jahrhundert die Pest ausbricht, ließ einen schon vor dem allgemeinen Lockdown nicht kalt. So stellt Camus 1947 vor dem Hintergrund des 2. Weltkrieges explizit zeitlose Fragen zum menschlichen Handeln an sich.

Das leere Theater wird zur Metapher

So nimmt im Roman Doktor Rieux als Arzt den Kampf mit der Pest auf und setzt in einer Situation, in der sich eine Gesellschaft aller zivilisatorischen Werte entledigt, alles daran, mit Anstand Mensch zu bleiben. Dömötörs Inszenierung wiederum bleibt konzentriert bei Camus. Und Božidar Kocevski überzeugt durch Präsenz und Schauspielkunst.

Während der coronabedingten Schließung des Theaters hat der Schauspieler den Text von András Dömötör und Enikö Deés gleich und doch anders präsentiert. Dauerte die Inszenierung 85 Minuten, so bewältigt Kocevski im Film die Textmasse in einer knappen Stunde. Zu Hause vor dem Bildschirm folgt man ihm durch ein leeres Theater. Wie in der Box schlüpft er in unterschiedliche Charaktere und verkörpert doch immer die Hauptfigur: Doktor Rieux.

Dem wandernden Schauspieler zuhörend, erfährt man von der pestbedingten Schließung der Stadt Oran und kann nicht anders, als in dem verwaisten Theater eine direkte Metapher zu sehen. Als Kocevski dann die von der Stadt erzwungene Opernaufführung beschreibt, steht er im ersten Rang des Deutschen Theaters zwischen den mit einem Staubschutz bedeckten Stuhlreihen.

Der geschlossene Vorhang

„Der Sänger wählte diesen Moment, um in seinem antiken Kostüm an die Rampe zu treten und inmitten dieser pastoralen Kulisse zusammenzubrechen. Im selben Moment verstummte das Orchester. Die Leute im Parkett standen auf und räumten den Saal. Die Bewegungen überstürzten sich, das Geflüster wurde zum Geschrei und schließlich strömte die Menge zu den Ausgängen“, weiß Camus’ Erzähler zu berichten.

Zusammen mit Kocevski sieht man hinunter auf das Parkett, hinüber zur Bühne mit dem geschlossenen eisernen Vorhang und hat das von ihm beschriebene Szenario viel deutlicher vor Augen, als man es dort haben möchte. Und beobachtet an sich selbst, dass sich mit der aktuellen Infragestellung der Verfasstheit der globalen Gesellschaft die persönliche Wahrnehmung extrem verändert hat.

Am 9. Juni hat das Deutsche Theater das erste Mal seit drei Monaten wieder gespielt. Momentan befinden sich die Bretter, die die Welt bedeuten, auf dem Vorplatz. Davor 70 Stühle und viel, viel Platz. Was auf der schwarzen Bühne, die wie ein Ausschnitt der Box wirkt, gezeigt werden kann, ist „Die Pest“. Weil hier coronakompatibel nur ein Schauspieler auf der Bühne steht. Božidar Kocevski blickt vom oberen Foyer hinunter auf den Vorplatz, tritt ans Fenster und unten wird es still. Kurz sieht man ihn noch dort oben, dann erfüllt seine Stimme den Platz.

Saß er in der Box anfangs mit dem Rücken zum Publikum und hat so die Bürger Orans vor dem Pestausbruch beschrieben, so erzeugt jetzt seine Stimme, die über Lautsprecher verbreitet wird, eine Omnipräsenz.

Dann ist er auf der Bühne. Es ist dieselbe Inszenierung. Nur der Ventilator fehlt. Das macht nichts. Denn Kocevskis Energie strömt auf den Platz. Die Vögel zwitschern und der Himmel ist blau. Immer mehr Stühle liegen auf dem Bühnenboden und stehen für Tod. Dann hebt der Schauspieler den Kinderstuhl hoch. Er hält ihn und hält ihn. Und legt ihn dann sanft auf den Boden. Es ist definitiv ein anderes Zuschauen nach dieser erzwungenen langen Theaterabstinenz. Es ist bewusster als vorher und dankbarer. Dieser Theaterabend wird bleiben. Wegen der besonderen Umstände, aber vor allem auch wegen seiner Relevanz. Inhaltlich und ästhetisch.

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