: Nur Identität
Ein Sammelband übt Kritik an der aktuellen queeren Politik
Till Randolf Amelung: "Irrwege. Analysen aktueller queerer Politik". Querverlag, Berlin 2020, 368 Seiten, 18 Euro
Von Jakob Hayner
Die „Kreischreihe“ des lesbisch-schwulen Querverlags ist inzwischen so berühmt wie berüchtigt. Berühmt aufgrund der Kritik an Entwicklungen der eigenen Szene. Und berüchtigt aus demselben Grund. So wurde der Verlag unter anderem von einer queeren Messe ausgeladen, weil ein solches Anliegen als Nestbeschmutzung einer als widerspruchsfrei und harmonisch imaginierten Gemeinschaft galt. Es begann 2017 mit dem von der Polittunte Patsy l’Amour laLove herausgegebenen Sammelband „Beißreflexe“, der in polemischer Manier vorführte, wohin die queere Revolution sich verirrt hatte – zu im autoritären Gestus vorgetragenen Ersatzhandlungen.
Der neueste Band der Reihe trägt den Titel „Irrwege. Analysen aktueller queerer Politik“. Herausgeber ist der Autor Till Randolf Amelung, der schon bei „Beißreflexe“ beteiligt war. Die zwölf Beiträge nebst Vorwort verstehen sich als Fortführung des legendären Auftakts. Während „Beißreflexe“ als wenig zimperliche Kritik im Handgemenge auftrat, liefert „Irrwege“ ausführlichere Analysen insbesondere des akademischen Felds – im Ton zurückhaltender, in der Sache nicht weniger kritisch. Von den Gewissheiten der Gender und Postcolonial Studies bleibt kaum eine unangetastet.
Zahlreiche Beiträge beziehen sich auf das Denken der Psychoanalyse. Es gibt keine richtige Sexualität im Falschen, drückt es die Kulturwissenschaftlerin Sonja Witte pointiert aus. Meinte queer einst die Befreiung des Begehrens, bedient sich inzwischen die neoliberale Psychopolitik solcher Etikettierungen.
Und während gesellschaftliche Probleme mehr und mehr individualisiert werden, zieht sich der Aktivismus auf den identitätspolitischen Privilegiencheck zurück oder kippt gar in offene Parteinahme für die Unfreiheit. Mit „Irrwege“ hat man zumindest die bessere Karte eines unübersichtlichen Geländes zur Hand.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen