Aktuelle Romane über Rückkehr: Mit schwerem Gepäck

Den aktuellen Büchern von Saša Stanišić, Didier Eribon, Bov Bjerg, Frank Witzel ist eines gemein: Erzähler kehren an den Ort des Heranwachsens zurück.

Auf einen historischen Bild liegt ein Kind auf dem Sofa, während eine Frau in einer Zeitung liest.

Gefühlserbschaften: die alte Bundesrepublik in den 70er Jahren Foto: Ute Mans/plainpicture

Jemand bricht in die alte Heimat auf, um sein Verhältnis zu dem Ort, aus dem er kam, zu bedenken und sich seines Lebenswegs zu versichern. Bei Erzählungen über Familienerinnerungen und Gefühlserbschaften dominiert derzeit das Modell einer Rückkehr.

Großen Erfolg hatte mit diesem Modell zuletzt Saša Stanišić mit seinem Buch „Herkunft“, das genauso gut „Rückkehr nach Višegrad“ heißen könnte. Und Maßstäbe gesetzt hat Didier Eribon mit „Rückkehr nach Reims“, einem Buch, das inzwischen auch in Deutschland überraschend viele Menschen gelesen haben. Wer erfahren möchte, wie soziologisch versiert und menschlich unerschrocken man dort anfangen kann zu graben, wo man steht, in der eigenen Familiengeschichte, kann das tatsächlich bei Eribon studieren.

Während Saša Stanišić sich nach dem Zerfall Jugoslawiens erst neu in der alten Heimat orientieren muss, nutzt Eribon die Dramaturgie einer Rückkehr, um vermeintliche eigene Gewissheiten zu revidieren. Lange hat er sich sein Leben entlang den Maßgaben einer gradlinigen Befreiungsgeschichte erzählt: Als Schwuler verließ er die homophobe Provinz, um in Paris seine sexuelle Identität zu leben. Nun entdeckt er aber eine bis dahin verdrängte zweite Geschichte: die Aufsteigergeschichte des jungen Arbeiterkindes, das er war und das sich von seinem Herkunftsmilieu radikal distanzieren musste, um Intellektueller zu werden. Seine Herkunft aus der Arbeiterklasse musste er auf der Universität verbergen.

Das erzählerische Modell einer Rückkehr birgt eine Gefahr: die, sentimental zu werden. Das wird Eribon an keiner Stelle, aber da ist etwas anderes. Die Attraktivität dieses Buchs liegt wohl auch daran, dass es bei aller geschilderten Misere von Gefühlstaubheit und Sprachunfähigkeit auch etwas Beruhigendes hat.

Melancholie, Habitus, Bourdieu

Die dargestellten Probleme tauchen nur als bereits analysierte auf. Schnell fallen die einschlägigen, Eribon sagt: „kraftvollen“ Begriffe: Melancholie, gespaltener Habitus, Bourdieu. Gleich zu Beginn ist auch von „Aussöhnung“ die Rede. Und überhaupt vermittelt der Erzählrahmen viel Souveränität. Es ist der Erzähler, der den Zeitpunkt der Rückkehr und ihren Verlauf bestimmt, er behält das Heft in der Hand.

Was aber, wenn sich diese Souveränität nicht einstellt? Und was, wenn so eine Rückkehr ein Deutscher unternimmt, bei dem die spezifisch deutschen Erbschaften von Kriegsschuld und Nationalsozialismus noch hinzukommen?

Dann ist man bei Bov Bjerg und seinem aktuellen Roman „Serpentinen“. Eribon begreift seine Distanzierung von seinem kommunistisch geprägten Arbeitermilieu teilweise als Verratsgeschichte. Aber gegen diesen Begriff Verrat sträubt sich natürlich zu Recht alles, wenn es um die Abgrenzung von handfesten oder auch nur emotionalen Erbschaften aus dem Natio­nalsozialismus geht.

Und auf so einen Hintergrund stößt die Mehrheit der Deutschen schnell, sobald sie tatsächlich in der Familiengeschichte zu graben beginnt – wobei der Erzähler bei Bjerg eher von ihr verfolgt wird.

Zum Motor der Geschichte wird vielmehr die Angst, die eigenen Beschädigungen an die eigenen Kinder weiterzugeben

Die Hauptfigur bei Bov Bjerg ist wie Eribon Soziologe. Auch er hat die Begriffe drauf, um das psychologische Drama einer Aufsteigergeschichte zu analysieren. Doch im Unterschied zu Eribon hilft ihm das gar nichts. Seine Rückkehr in die Orte seines Heranwachsens im Schwäbischen, die er im Auto und mit seinem pubertierenden Sohn als Beifahrer unternimmt, hat etwas Zielloses.

„Es war also möglich, sich zu befreien“, denkt er einmal. Doch das bezieht sich auf Veronika, eine frühere Mitschülerin, die er arg gehänselt hat und die inzwischen eine erfolgreiche Geschäftsfrau in den USA geworden ist. Für ihn selbst ist eine Befreiung nicht drin. Aussöhnung erst recht nicht. Zum Motor der Geschichte wird vielmehr die Angst, die eigenen Beschädigungen an den Sohn weiterzugeben.

„Geht“, sagt der nur, wenn er gefragt wird, ob er friert oder, an anderer Stelle, ob es sehr weh tut, als er sich an einem Holzsplitter verletzt. Ein Beispiel für das subtile atmosphärische Netz, das Bjerg unter die ablehnende Rotzigkeit des Erzählers legt (bei einem renaturalisierten Bach fällt ihm nur die Wendung von einem „prototypischen Faschismusbächlein“ ein, Heimat halt).

Kriegsenkel, Aufsteiger

Denn: „Geht“, so reden Jugendliche ja tatsächlich, und es bleibt in der Schwebe, ob der Sohn hier nur den typischen Heranwachsenden gibt oder ob die Gefühlserbschaften von Schmerzunterdrückung und Sprachlosigkeit schon auf ihn übergegangen sind.

Bov Bjerg stattet seinen Erzähler mit einer handfesten Depression aus, dem „Schwarzen Gott“, und die Lesart, dass eine Familiendisposition dazu besteht – seit Generationen begehen die Väter der Familie Suizid –, liegt nahe. Doch das ist, auch wenn es seltsam klingt, eher die beruhigende Lesart, weil sie eine so schön runde Erklärung bietet.

Beunruhigender und damit auch interessanter ist es, das innere Drama dieses Vaters auf solche Kontexte wie Kriegsenkelprobleme und Selbstverbergungstaktiken in der Aufsteigergesellschaft zu beziehen. Dann wird Bjergs Roman zum Porträt einer Boomer-Generation, die schweres Gepäck zu tragen hat.

Sobald sie gräbt, stößt sie auf verdeckte Geschichten von Vertreibungen, von Schuld und falschen Heimatdiskursen. Und sobald sie über ihren eigenen Lebenslauf nachdenkt, stellt sie fest, dass die Hoffnung, dem allem durch sozialen Aufstieg zu entkommen, die Rückseite einer Selbstverleugnung hat.

Die Vergangenheit verändern

Wenn man hinzunimmt, dass solche Mechanismen zu durchschauen nicht immer dabei hilft, sie auch zu verarbeiten, wird die Verzweiflung des Vaters, das alles wenigstens nicht an sein Kind weitergeben zu wollen, geradezu schockartig nachvollziehbar.

Eine erzählerische Rückkehr an den Ort der Herkunft kann nicht nur die Gegenwart transparenter machen, sondern (klassischer Gedanke Marcel Prousts) auch die Vergangenheit verändern. Sie wird zupackender, kommt näher, wird, wenn Aussöhnung problematisch ist wie bei Bjerg, dann aber auch verhängnisvoller, auf jeden Fall rührt sie an den Kernbereich der eigenen Identität und der Schwierigkeiten mit ihr. „Familienbla“ heißt es in „Serpentinen“.

Suche nach der eigenen Trauer

Oder aber die Vergangenheit wird schräger, verliert das für die alte Bundesrepublik so lange gültige unhinterfragt Normale, wird geheimnisvoller und damit etwas, in dem man sich auch verlieren kann.

So geht es Frank Witzel in seinem Memoir „Inniger Schiffbruch“, in dem die Rückkehr an den Ort der Herkunft noch einmal anders inszeniert wird, nicht als in sich abgeschlossene Reise, sondern als Suche nach der eigenen Trauer nach dem Tod des Vaters und dabei als anhand von Träumen, Familienfotos und sonstigen Überlieferungen unternommenes mikroskopisches Erinnerungsprojekt.

Man hat beim Lesen von „Inniger Schiffbruch“ schon auch mit Abwehrmechanismen zu kämpfen, als würde das Buch einem manchmal zu nahe kommen. Aber man hat dann auch viel zu erzählen. Etwa die Episode, als die Eltern sich endlich ihr „Traumhaus“ leisten konnten und viele Möbel der Vorbesitzerin einfach übernahmen, was sich der Erzähler nicht erklären kann: „Oder löste die Vorstellung, endlich etwas Eignes zu haben, in ihnen ein Gefühl der Überforderung, vielleicht sogar der Panik aus, sodass sie das Eigene unwillkürlich als uneigen behandelten, um es überhaupt ertragen zu können?“

Abgrenzung und Aussöhnung

Spätestens solche Episoden zeigen, dass man selbst bei solchen Klischeemotiven wie dem Traum vom Eigenheim nicht von einem kollektiv geteilten Erinnerungspool ausgehen sollte. Interessant werden Rückkehrerzählungen, wenn sie, wie bei Frank Witzel, Spezifisches zutage fördern.

Die großen Themen des erzählerischen Rückkehrmodells wie Abgrenzung, Aussöhnung, Gefühlserbschaften und auch fragwürdige Überlieferungen (Johanna Haarers schon für die Nazi-Erziehung von Säuglingen einschlägige Buch „Die Mutter und ihr erstes Kind“ kauft sich die Mutter des Erzählers arglos zur Geburt ihres Sohnes) wird von Frank Witzel in ein kleinteiliges Mosaik von Kurzessays und manchmal auch nur Notizen voller Fragen übersetzt.

Diese Rückkehr hat kein Ende. Der Versuch, die eigene Herkunft zu durchschauen, wird hier zum (eigentlich unabschließbaren) erzählerischen Drama.

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