: Geht ab wie Schmidts Katze
Christina Frank ist so etwas wie der Schutz- und Racheengel der Schlecker-Frauen. Denn wenn die Stuttgarter Gewerkschaftssekretärin etwa anpackt, dann richtig. Achtstundentage sind ihr dabei ebenso schnurz wie die Kleiderordnung bei Ver.di, weshalb die engagierte Kämpferin im eigenen Haus nicht immer geliebt wird. Von den Schlecker-Frauen dafür umso mehr
von Susanne Stiefel (Text) und Jo Röttgers (Fotos)
An diesem Augusttag quillt ihr Postfach über. Der Computer teilt ihr mit, dass er nun wirklich keine Mails mehr annehmen kann. „Das regel ich später“, sagt Christina Frank und räumt einen Besucherstuhl frei. Später, das kann auch mal nachts um 3 Uhr sein, wenn kein Anruf sie mehr in ihrem kleinen Büro im Stuttgarter Gewerkschaftshaus stört, wenn kein Journalist mehr etwas von ihr wissen will und sie alle Schlecker-Frauen arbeitsrechtlich beraten hat, deren Ansprüche nicht erfüllt wurden oder die sich über das Arbeitsamt beschweren. Oder die einfach nur getröstet werden müssen.
Seit der Insolvenz des einstigen Drogerie-Giganten aus Ehingen im März dieses Jahres kann die 57-Jährige von der gewerkschaftlich geforderten 37,5-Stunden-Woche nur träumen. Aber für Träume hat Christina Frank keine Zeit. „Ich bin das Nadelöhr“, sagt sie ruhig, „ich muss jetzt durchhalten.“ Der Mittelmeer-Kalender neben ihrem überfüllten Schreibtisch muss ihr derzeit als Urlaubsersatz genügen.
Christina Frank fühlt sich für „ihre“ Schlecker-Frauen verantwortlich, die sich übrigens selbst so nennen. Als Gewerkschaftssekretärin für den Einzelhandel hat sie über Jahre für Betriebsräte und einen Tarifvertrag bei Schlecker gekämpft. Mit Erfolg. Sie ist von Filiale zu Filiale gereist, sie hat die Verkäuferinnen kennengelernt und sie davon überzeugt, eine Interessenvertretung zu wählen. Sie hat gegen übergriffige Vorgesetzte geklagt, „das war ein System von Bedrohung und Nötigung“, sagt sie. Von den rund 700 betroffenen Schlecker-Frauen im Bezirk Stuttgart sind 80 bis 90 Prozent bei Ver.di organisiert. Darauf ist Frank stolz.
Eine untypische Gewerkschafterin
Doch sie weiß auch, dass dies eine Verpflichtung ist. Kürzlich ist ihr beim Stammtisch der Schlecker-Frauen im Gewerkschaftshaus eine ehemalige Verkäuferin aufgefallen, die mit versteinertem Gesicht dasaß, kein Wort sprach und ging, bevor sie sie ansprechen konnte. „Hast du ihre Nummer“, fragt sie am Telefon eine Kollegin, „ich hab Angst, dass sie aus dem Fenster springt.“ Christina Frank sieht hinter ihren Mitgliedern auch den Menschen.
Kollegen bescheinigen ihr, eine untypische Gewerkschafterin zu sein. Das ist oft nicht freundlich gemeint. Christina Frank ist keine Funktionärin, die nur in Mitgliederzahlen, Hierarchien und Tarifstrukturen denkt. Die gelernte Diplompädagogin kümmert sich um jede dieser Frauen, egal, ob es um eine falsche Lohnabrechnung geht oder darum, dass bei manchen schon der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. Sie weiß, dass Tränen und Verzweiflung nicht am Telefon verhandelt werden können und nicht bei allen Fragen das Arbeitsrecht hilft. Dann lädt sie die Betroffenen ein in ihr Büro und verschiebt alles andere in die Nacht. Das Schicksal dieser Frauen ist ihr nicht gleichgültig.
Weniger wichtig sind ihr Vorgesetzte, mit denen sie seit Beginn ihrer Gewerkschaftstätigkeit vor vielen Jahren zuverlässig in Streit gerät. Nur mit Stuttgarts Ver.di-Chef Bernd Riexinger hat sie sich immer gut verstanden. Der hat das Energiebündel laufen lassen, hat sie unterstützt und sich gefreut, wenn Christina Frank mal wieder bei Sandra Maischberger, Anne Will oder Maybritt Illner in der Talkrunde saß. Ihr unermüdliches Engagement für bessere Arbeitsbedingungen bei Ikea, Breuninger, H & M und nicht zuletzt für die Schlecker-Frauen hat sich bundesweit herumgesprochen. Nicht jeder in ihrer Gewerkschaft beobachtet so viel Medienpräsenz mit Riexingers Gelassenheit. Neid ist auch unter Genossen kein Fremdwort.
Bei Anne Will bescheinigt: „ein gerüttelt Maß an Leidenschaft“
Zu Riexinger konnte Christina Frank noch abends ins Büro kommen, diskutieren, ob Entscheidungen richtig waren, Sorgen abladen und vor allem – neue Ideen ausbaldowern. Seitdem er den Job als Vorsitzender der Linken übernommen hat, ist Schluss mit diesem kreativen Gedankenaustausch, der sich nicht an Arbeitszeiten und Hierarchien orientiert. „Ich hoffe, dass er wieder zurückkommt“, sagt Christina Frank. Diese Frau kann jede Unterstützung brauchen.
Woher kommt diese Energie? Was treibt diese Frau an, die seit März fast Tag und Nacht arbeitet, die ihren Mann kaum sieht, der irgendwann schicksalsergeben stöhnte, „irgendwann fällst du tot um“? Da sitzt sie in ihrem kleinen Büro, wo sich die Papiere auf dem Schreibtisch und auf den Stühlen stapeln, wo das Bundesgesetzbuch, das Arbeitsrecht und der Erfurter Kommentar auf dem Fensterbrett stehen und das Familienbild die Familienzeit ersetzen muss – und lacht. „Ich hab mich schon immer verantwortlich gefühlt“, sagt Christina Frank, die mit vielen jüngeren Geschwistern aufgewachsen ist, „das ist so ein Vogel, den ich schon als Kind entwickelt habe.“ Ungerechtigkeit weckt ihren Ehrgeiz, und der Erfolg gibt ihr recht. „Ich bin in der Lage, durch Stärke und strategisches Denken den Leuten zu zeigen, dass sie sich erfolgreich wehren können“, sagt sie. Bei Anne Will wurde ihr „ein gerüttelt Maß an Leidenschaft“ attestiert.
Diesen selbstbewussten Optimismus vermittelt sie auch den Schlecker-Frauen, die sie regelmäßig zum Stammtisch ins Gewerkschaftshaus einlädt, damit sie mit ihren Sorgen nicht allein bleiben. Draußen treibt ein heißer Sommerabend die Vergnügungssüchtigen auf die Partymeile in der Stuttgarter Theodor-Heuss-Straße, drinnen hat Christina Frank Apfelsaft, Kuchen und Experten von der Rentenversicherung organisiert, die über Reha-Maßnahmen aufklären. „Ihr habt gearbeitet bis zum Umfallen, ihr habt das verdient“, ermuntert sie die Frauen. Ebenso wie den gemeinsamen Wochenendausflug an den Bodensee in den nächsten Tagen, den sie organisiert hat, damit die Frauen mal wieder rauskommen und etwas anderes sehen als die eigenen vier Wände.
Rund dreißig Exverkäuferinnen sitzen um einen Tisch, erzählen teils mit Sarkasmus, teils wütend von ihren Erlebnissen mit dem Arbeitsamt: „Die halten uns dort für doof“, und tauschen ihre Erfahrungen aus mit Vorstellungsgesprächen, bei denen ihnen nicht selten der stolze Stundenlohn von knapp sieben Euro oder gar ein Praktikum angeboten wurde.
„Ich will nicht nur das Abwickeln begleiten“
Die gedämpfte Stimmung ändert sich, als Christina Frank für ihre neueste Idee wirbt. Als Gewerkschafterin kennt sie die Zahlen aller Schlecker-Filialen in ihrem Bezirk. Sie weiß, welche gut liefen. Sie erzählt von Bürgermeistern, die um den einzigen Laden im Ort kämpfen, sie kennt Vermieter, die auch zu geringeren Mieten bereit wären mitzumachen. Zunächst will sie fünf der aufgegebenen Filialen in einem Genossenschaftsmodell übernehmen, unter Regie der entlassenen Schlecker-Frauen. Die Frauen spitzen die Ohren, werden lebendig. „Komm, das machen wir gemeinsam“, sagt eine ältere Frau und stößt ihre jüngere Nebensitzerin in die Rippen. „Ich will nicht nur das Abwickeln begleiten, das ist nur destruktiv. Wir wollen gemeinsam mit den Frauen Alternativen entwickeln“, sagt Frank. Auch die Idee der Genossenschaftsläden ist übrigens an einem Abend in Bernd Riexingers Büro entstanden.
Christina Frank mag derzeit wirklich keine Zeit haben, aber sie nimmt sie sich. Ihre Haare stehen angriffslustig nach oben, auch wenn sie müde aussieht. Doch ihre Stimme klingt ruhig, egal, ob mal wieder ein Anruf das Gespräch unterbricht, eine Kollegin wegen der angeforderten Praktikantin ins Büro schneit oder eine Schlecker-Frau in der Tür steht und ihr zu einer fehlerhaften Abrechnung eine Schachtel Raffaelo mitbringt, „weil du abgesch wie Schmidts Katze“. Dann lacht Christina Frank, räumt noch einen Stuhl frei, stellt die Pralinen auf den Schreibtisch und stöhnt, dass sie immer zunimmt, wenn sie viel Stress hat. Dann hört sie zu, erklärt, dass der Exverkäuferin noch vom Mai Geld zusteht. „Da muss ich klagen“, sagt sie und verschiebt die Sache mit dem überfüllten Postfach und den vielen Menschen, die zurückgerufen werden wollen, mal wieder in die Nacht.
Christina Frank ist sich sicher, dass sie den tollsten Job der Welt hat. „In welchem Beruf können Sie denn sonst noch die Realität verändern?“, fragt sie.