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Archiv-Artikel

Wie viel Markt vertragen Demokratie und Sozialstaat?

Nicht der Markt an sich, sondern seine neo-liberale Ausprägung ist das Problem, sagt Wirtschafts-Professorin Adelheid Biesecker – und die Politik müsse ihm Einhalt gebieten. Die taz dokumentiert den Vortrag, den Biesecker im Juni auf dem Bremer Sozialforum gehalten hat. Beispiele anderen Wirtschaftens stellt die taz immer freitags in der neuen taz-Serie „Wirtschafts-Weise“ vor

von Adelheid Biesecker

Vorbemerkung: Bei der Vorstellung der Agenda 2010, dem großen Reformprojekt der rot-grünen Bundesregierung, sagte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), die Agenda 2010 mache Deutschland „fit für die Globalisierung“. Was wir bei der Umsetzung dieser Reformen heute alltäglich erleben, hier, vor Ort, ist somit unmittelbar politisch vorangetriebener neo-liberaler Globalisierungsprozess.

Alltägliche Erfahrungssplitter

In den vergangenen Wochen habe ich hier in Bremen diesen Prozess des Fitmachens für die Globalisierung an folgenden Beispielen erlebt:

■ die Kindergartengebühren werden drastisch angehoben, Zusatzleistungen für eine „gute“ Bildung, wie frühkindlicher Englischunterricht, sollen von den Eltern zusätzlich eingekauft werden (d.h., „gute“ frühkindliche Bildung gibt es nur für Zahlungsfähige, über einen entsprechenden Markt);

■ die Angebote der Volkshochschule sollen drastisch gekürzt werden, Überlegungen gehen dahin, die VHS ganz zu schließen und stattdessen Qualifizierungsleistungen privat einkaufen zu lassen (das heißt, Weiterbildung gibt es dann nur noch für Zahlungsfähige, über einen Markt für Weiterbildung);

■ arbeitslose alleinerziehende Mütter erhalten keinen Ganztags-Kindergartenplatz mehr. Das hindert sie am Erwerbsarbeiten, sie fallen aus dem Erwerbsarbeitsmarkt heraus. Hartz IV sieht nur noch einen Arbeitsmarkt für „Beschäftigungsfähige“ vor – Kinder werden zu Beschäftigungshindernissen. Es gibt sicherlich noch viele andere Beispiele – aus den Schulen, Krankenhäusern, den Stadtteilen. Wichtig ist mir hier die gemeinsame Qualität der Prozesse: Politik macht Märkte – diese Märkte schließen Menschen aus.

Was ist ein Markt?

Vor ein paar Tagen hörte ich in den Nachrichten ein Gespräch mit einem so genannten Experten über den Ölmarkt und die steigenden Benzinpreise zur Urlaubszeit. Sein erster Satz lautete: „Wer etwas von Volkswirtschaftslehre versteht, der weiß: Preise bilden sich über Angebot und Nachfrage.“ Ist das so? Es kommt auf die jeweilige Theorie und Praxis an. Es gibt viele Theorien über Märkte. Das neo-liberale Projekt stützt sich vor allem auf zwei Konzepte:

■ auf das der so genannten neoklassischen Theorie (Märkte sind Allokationsmechanismen zwischen ihren Eigennutz verfolgenden Waren beziehungsweise GeldeigentümerInnen und führen über den Tauschprozess zu einem gesellschaftlichen Wohlfahrtsoptimum)

■ auf das Konzept der Neuen Österreichischen Schule, verbunden mit dem Namen von Hayek (Märkte sind „Entdeckungsverfahren“, Prozesse, in denen die Marktindividuen über Lernprozesse den optimalen Preis herausfinden). In beiden Konzepten soll der Staat sich aus dem Marktgeschehen heraushalten, soll allerdings „Rahmenbedingungen“ setzen. Beide Theorien verbreiten denselben Mythos – den vom sich selbst regulierenden Markt. Andere Theorien machen auf diesen Mythos aufmerksam, so ist zu Beispiel im Kommunitarismus von Etzioni der Markt eingekapselt in soziale Beziehungen, Moralvorstellungen und Politik, und Preise bilden sich aus Angebot, Nachfrage und Macht. Politik ist als marktregulierende Kraft nötig, und so ist in anderen sozial-ökonomischen Theorien der Markt ein gesellschaftliches Konstrukt, geprägt durch Institutionen, eingebettet in die Gesellschaft, politisch hergestellt und damit regulierbar und zu regulieren. Politik soll eine Gegenmacht gegen ökonomische Macht darstellen und letztere begrenzen. Nach diesen Auffassungen werden Märkte politisch, gesellschaftlich gemacht – es lässt sich die Frage stellen: Welche Märkte wollen wir? Die Antwort der neo-liberalen Politik ist klar: Neo-liberale Politik will einen neo-liberalen Markt. Neo-liberale Globalisierung ist ein politisches Projekt.

Andere Mythen des neo-liberalen Marktkonzepts

Ich frage mich immer wieder, weshalb dieses Projekt „gelingt“, weshalb so viele dabei mitmachen. Aus meiner Perspektive als Ökonomin habe ich als Antwort gefunden: weil die Ausdehnung dieser Märkte einhergeht mit einer Reihe von Versprechen, die jedoch nicht eingelöst werden, sondern weitere Mythen darstellen. Das wichtigste Versprechen ist das Wohlfahrtsversprechen. Über die Ausdehnung von Märkten soll es allen Beteiligten immer besser gehen, eben weil der Markt, indem jeder nur seinen Eigennutz im Sinn hat, zu einem gesellschaftlichen Optimum führt. Dieses ist ein reines so genanntes Allokationsoptimum, es kennzeichnet den Zustand optimaler Verteilung der Güter und Produktionsfaktoren, gemessen am Nutzenniveau der Beteiligten. Dieses Optimum hat nichts zu tun mit einer gerechten Verteilung (für jede Ausgangsverteilung gibt es ein Optimum), schon gar nicht mit der Naturverträglichkeit der Ökonomie. Und: Es schließt, wie wir oben gesehen haben, alle Nicht-MarktteilnehmerInnen aus. Das sind zum einen Menschen in anderen ökonomischen Prozessen wie Frauen in der Versorgungsökonomie oder BürgerInnen in der Selbsthilfe – oder solidarischen Ökonomie, deren Tätigkeiten nicht als ökonomisch gelten. Das sind zum anderen all diejenigen, die am Markt nichts anzubieten haben – sei es eine Ware oder Geld.

Damit komme ich zum Integrationsversprechen, zum Versprechen auf Teilhabe und Teilnahme. Es besagt, dass über die Ausdehnung des Marktprinzips alle Gesellschaftsmitglieder nach und nach in die Gesellschaft hereingeholt werden. Nach dem bisher Gesagten ahnen wir schon: Das stimmt nicht. Diese Märkte basieren schon in ihrer Kernkonstruktion auf Inklusion und Exklusion – auf Inklusion der Wareneigentümer als Marktteilnehmer und auf Exklusion der anderen ökonomischen Prozesse und der darin Tätigen (davon ist weltweit der größte Teil Frauen) sowie auf Exklusion der ökologischen Natur. Und im Globalisierungsprozess schreitet dieses Inklusions-Exklusions-Prinzip fort: während immer mehr Bereiche in Märkte verwandelt werden (zum Beispiel haushaltsnahe Dienstleistungen, subsistenzökonomische Prozesse in Ländern des globalen Südens), werden gleichzeitig immer mehr Menschen aus Marktprozessen ausgeschlossen. Das gilt etwa für weite Gebiete Afrikas, wo nach jüngsten Berichten die Armut entgegen dem Millenniumsziel wächst, das gilt aber auch hier bei uns zum Beispiel für Frauen mit Kindern am Arbeitsmarkt oder so genannten „Ein- Euro-JobberInnen“. Statt Integration entsteht Zerstörung von bisher funktionierenden Subsistenzökonomien und Abhängigkeit von Märkten.

Aber sind diese Märkte nicht doch „gute“ gesellschaftliche Innovationen, weil sie mit einem „Entlastungsversprechen“ verbunden sind? Damit ist das Versprechen gemeint, dass ich als Käuferin, indem ich den Preis für eine Ware zahle, mich darauf verlassen kann, dass dieser Preis „richtig“ ist, weil er ja als optimal gilt, dass er also alle Kosten beinhaltet und die Lebensfähigkeit der beteiligten ProduzentInnen einschließlich der beteiligten ökologischen Natur garantiert. Indem ich kaufe, handele ich somit „gut und richtig“. Ein Beispiel ist die Billig-Milch bei Lidl und die Frage, warum so viele Menschen diese kaufen, obwohl doch jedeR wissen kann, dass die Bauern von diesem Milchpreis nicht mehr leben können. Würden alle Kosten in den Preis eingehen, und würden auch die Reproduktionskosten der menschlichen und ökologischen Lebensprozesse berücksichtigt, dann könnte das stimmen. So ist es aber nicht. In Kosten gehen nur bewertetet Dinge ein – und die Macht von Lidl ermöglicht das Drücken des Preises weit unter diese sowieso schon unzureichend erfassten Kosten. Die Rationalität neo-liberaler Märkte trägt kein Element des Erhaltens in sich, sondern ist nur auf die Maximierung von Gewinn gerichtet. Wohlfahrts, Integrations und Entlastungsversprechen neo-liberaler Märkte erweisen sich somit als Mythen. Es gilt, sie als solche immer wieder zu entlarven, um dem neo-liberalen Globalisierungsprojekt die Unterstützung so vieler Menschen zu entziehen.

Die Qualität neo-liberaler Märkte

Sammeln wir die gefundenen Qualitätsmerkmale neo-liberaler Märkte zusammen, so lässt sich sagen:

■ diese Märkte ermöglichen Marktteilnehmern mit Marktmacht hohe Gewinne;

■ sie haben keine soziale und keine ökologische Dimension (Konzepte der Sozial-Ökologischen Marktwirtschaft versuchen, diese Dimensionen politisch zu schaffen);

■ sie sind hierarchisch konstruiert, „sitzen“ auf den unsichtbaren, als nicht-ökonomisch angesehenen produktiven Prozessen der sozial-weiblichen Versorgungsarbeit und in der ökologischen Natur auf – sie sind damit geschlechtlich strukturiert, werten sozial-weibliche ökonomische Prozesse ab und grenzen sie aus – sie zerstören durch ihre Ausdehnung subsistenzökonomische Prozesse. Fazit: Neo-liberale Märkte sind vor allem gut für mächtige Marktteilnehmer.

Wieviel neo-liberalen Markt vertragen Demokratie und Sozialstaat?

Die Eingangsfrage hat sich jetzt also geändert: Nicht jeder Markt, sonder seine neo-liberale Form steht hier in Frage. Von diesem Markt profitieren nur private, möglichst mächtige Marktteilnehmer. Damit liegt die Antwort auf die gestellte Frage fast schon auf der Hand:

■ Neo-liberale Märkte und ihre mächtigen Akteure wollen keinen Sozialstaat, sie vertragen ihn nicht. Er widerspricht ihren Grundprinzipien und Weltbildern – dem Bild des Menschen als lebenslangem workforce-Unternehmer, dem Bild von der Gesellschaft als Summe isolierter Individuen, die nach maximalem Nutzen streben, dem Bild von Natur als ausbeutbarer Ressource. Sozialstaat bedeutet, Steuern zu zahlen für Sozialleistungen, die Menschen vom Markt unabhängig machen – beides stört das neo-liberale Projekt. Umgekehrt heißt das auch: Der Sozialstaat verträgt keine neo-liberalen Märkte.

■ Neo-liberale Märkte basieren auf sozial isolierten, eigennützigen Individuen, die gegenseitig Macht ausüben, miteinander konkurrieren, für die eigenen Zwecke kooperieren. Neo-liberale Märkte brauchen den Staat für ihre Einrichtung (Institutionalisierung), ihre Absicherung und ihre Ausdehnung (die Politiker reisen heute in noch nicht von Märkten durchdrungene Länder immer mit einem großen Stab von Managern, um ihnen Geschäftsfelder zu eröffnen). An diesen Märkten werden private Güter gehandelt – was keinen privaten Produzenten findet, das heißt, was nicht den erwarteten Profit abwirft, wird nicht hergestellt. Neo-liberale Märkte sind eine private Angelegenheit – und wollen von der Öffentlichkeit in Ruhe gelassen werden. Umgekehrt heißt das auch: Die Demokratie (als gesellschaftliche Form, in der alle Gesellschaftsmitglieder über ihre Angelegenheiten nach bestimmten Regeln gemeinsam entscheiden und dabei auch klären, was überhaupt privat und was öffentlich erstellt werden soll) verträgt keine neo-liberalen Märkte.

Von welchem Markt vertragen Demokratie und Sozialstaat wie viel?

Märkte sind sozial konstruiert, hieß es oben. Sie sind nur ein Teil der Ökonomie. Diese ist vielfältig, besteht neben Märkten aus Versorgungsökonomie und Selbsthilfe – und solidarischer Ökonomie. Heute besteht zwischen diesen ökonomischen Räumen die oben erwähnte Hierarchie, verbunden mit Abwertungen und Ausgrenzungen vor allem sozial-weiblicher Arbeiten und ökologischer produktiver Prozesse. Eine zukunftsfähige Ökonomie ist eine, in der diese Hierarchie, diese Abwertungen und Ausgrenzungen aufgehoben sind und in der nicht vom Markt auf Gesellschaft und Natur, sondern von den lebendigen Prozessen auf Märkte geblickt wird. Welche Märkte wollen wir – welche Märkte tragen zu einem guten Leben und dem Erhalt der Natur bei? Diese Frage lässt sich dann stellen. Um sie nicht nur zu beantworten, sondern die Antworten auch in die Tat umzusetzen, braucht es die Tat vieler, gerade auch „vor Ort“. Diese Ökonomie baut sich von unten nach oben auf, gemäß dem Prinzip der Subsidiarität. Zu ihrer Entwicklung braucht es auch eine mutige Politik, die sich traut, neo-liberale Märkte zu beschränken und Finanzmittel als Steuern bei ihnen abzuschöpfen. Denn: eine andere Ökonomie ist möglich – mit Hilfe einer anderen Politik.