: Ein bisschen nostalgisch in Danzig
Längst hat solider westlicher Komfort Polens Hotels und Strandpromenaden erreicht. Von Swinemünde bis zur Kurischen Nehrung schießt ein Hotel nach dem anderen aus dem Boden. Und Danzig präsentiert sich ganz angesagt in einer Mischung aus Luxus und morbidem Charme
VON HEIKO MEYER
Eigentlich hatte sich Krzysztof auf das Nachtleben in seiner ehemaligen Heimatstadt Gdansk gefreut. Doch während Samstagnacht um halb eins im benachbarten Seebad Sopot die Elektrobeats hämmern, hockt der Filmemacher noch immer in einem Ledersessel der Hotellobby und erzählt, dass das „Sfinks“ derzeit die angesagte Ausgehadresse vor Ort sei. In dem Club, von MTV schon mal unter die zehn Ersten in Europa gewählt, will er die besten DJs und die hübschesten Mädchen der polnischen Ostseeküste gesichtet haben. Doch ungeachtet solcher Aussichten nippt Krzysztof in aller Seelenruhe an seinem Bier: „Einfach zu gemütlich hier.“
Längst hat solider westlicher Komfort Polens Hotels und Strandpromenaden erreicht. Im Musterland unter den EU-Beitrittsländern rücken die Seebäder mit ihren schneeweißen Sandstränden nun auch ins Visier westlicher Urlauber. Nahezu ungetrübt erscheint hier neuerdings die Sommerfrische. Man munkelt, dass selbst die Mafia massiv in Hotelanlagen investiert hat und fortan auf seriös macht. Eine Art erzwungene Selbstreinigung, bedingt durch die bevorstehende Anhebung der Sicherheitsstandards auf EU-Niveau. Und so schießt von Swinemünde bis zur Kurischen Nehrung ein Hotel nach dem anderen aus dem Boden. Viele für den gehobenen Anspruch.
Die Lobby des Hotels Marina mit ihren Marmorsäulen und ihrem geschwungenem Design hat es Krzysztof angetan; dazu logiert er im Zimmer mit Seeblick, inklusive der Silhouette Gdansks mit ihren Betonvorstädten. Hier wuchs der 39-Jährige auf, bevor er vor 15 Jahren in Westberlin strandete. Eher zufällig ist er in die Gruppe von Reisebüroagenten aus Deutschland geraten, die gerade neues Terrain für ihre Kundschaft besichtigt. Von den mittelalterlichen Gassen der einstigen Hansestadt mit ihren Bernsteingalerien über die 30 Kilometer ins Meer ragenden Sanddünen der Halbinsel Hela bis nach Sopot, Seebad, Künstlerkolonie, Ausgehmeile und nebenbei Geburtsort Klaus Kinskis.
Um Punkt ein Uhr lässt der Barkeeper im Foyer scheppernd die eisernen Gitterrollläden herunter. Aus einer Seitentür der Vorhalle dringt Musikgetöse. Die Hoteldisko mit Lichtschläuchen und Shakira-Sound. Krzysztof, der in Lodz Filmkunst studiert hat, fühlt sich durch das einsame Paar unter der Glitzerkugel, einen älterer Herrn mit kariertem Jackett und seiner blondierten Begleiterin, sogleich an Szenen aus einem Fellini-Streifen erinnert. Neben der Tanzfläche flimmert Eurosport auf Großbildleinwand. Ein k. o. geschlagener Boxer wird gerade wiederbelebt, als zwei ukrainische Stripperinnen das Pärchen rüde von der Tanzfläche verdrängen. Zwei Reisescout-Frauen aus der Gruppe winken Krzysztof an ihren Tisch. Beide tragen hochgesteckte Versace-Sonnenbrillen und ordern ausgelassen Wodka.
Krzysztof schwärmt vom heutigen Tagesausflug zum Grand Hotel Sopot, seinem Favoriten unter den Hotels der Dreistadt – gemeint sind die aneinander grenzenden Städte Gdynia, Gdansk und Sopot. An einer Seebrücke gelegen, verströmt der Jugendstilbau eine Mischung aus plüschigem Luxus und morbidem Charme. Als Krzysztof unlängst ein Filmevent im Ort organisierte, erntete er von hier einquartierten Kollegen aus London und New York reichlich Lob. In Suite 226 haben einst schon Adolf Hitler, Charles de Gaulle und Fidel Castro genächtigt. Inklusive einer Terrasse in Tennisplatzdimension ist die Suite heute ab 250 Euro die Nacht zu haben, wobei sich bis zu vier Personen die weitläufigen Räumlichkeiten teilen können. Eine weitere Attraktion des Grandhotels sind die Pissoirs im Parterreflur. Falls jemand auf die Idee käme, einen Bildband über die beeindruckendsten Exemplare dieser Gattung herauszugeben, dürften die dortigen drei mannshohen Sonderanfertigungen aus England auf keinen Fall fehlen, findet Krzysztof.
Seine auf TUI und Neckermann-Standard fixierten Tischdamen sind bezüglich des Grand Sopot eher skeptisch und verspüren „keine Lust, in einem Museum zu übernachten“. Wesentlich höher stufen sie das Dwor Oliwski ein, ein Patrizierhaus im ehemaligen Danziger Schwabental, das heute als Landschaftsschutzpark deklariert ist. Das Hotel im hügeligen Stadtteil Oliwa, wo während der Saison Touristenbusse auf den Spuren von Günter Grass fahren, verfügt neben klassizistisch eingerichteten Suiten, Teeraum und Bar über ein Restaurant mit französischem Küchenchef und Konditor. Superromantisch – hier verbringe ich meine Flitterwochen“, so das Fazit einer Reisekauffrau.
Derartigen Träumereien bereitet Krzysztof auf der Rückfahrt ein abruptes Ende, indem er auf ein Erbe sozialistischer Wohnkultur am Wegesrand hinweist: den mit knapp 850 Metern vermutlich längsten Wohnblock Europas, der ihm bereits Stoff für einen Kurzfilm geliefert hat. Fast 6.000 Menschen bewohnen, eingepfercht in schmale Zwei- bis Dreizimmerappartements, den mehrfach gefalteten Betonklotz, im Volksmund Wella-Haus genannt. Ein Freund von Krzysztof, der jahrelang in dem Kasten wohnte, hat ihm jedoch versichert, dass es Schlimmeres gebe, als hier zu logieren.
„Gerade kommt mir so eine Idee, was er damit gemeint haben könnte.“ Krzysztof grinst in sein Bier hinein. Nach jahrelangem Exil noch immer ganz Patriot, verweist er auf das Flaschenetikett und verkündet stolz, dass die einheimische Marke Tyskie kürzlich auf einer Londoner Biermesse den ersten Preis abräumte. Na dann Prost!
Als durch eine Seitentür das erste Morgenlicht hereinsickert, kommt den Frauen die Idee, den Tag mit einem Bad im eisigen Meer zu beginnen. Als Zuschauerinnen gesellen sich noch fünf sturzbetrunkene Engländerinnen hinzu, die am Nachmittag ein Theaterstück auf dem Gdansker Marktplatz aufgeführt haben, in dem es um 30 sturzbetrunkene Frauen ging, wie ihren Schilderungen zu entnehmen ist. Glücklich, wer sein Hobby zum Beruf gemacht hat.
Fern schimmern die Kräne der Danziger Werft, wo einst Lech Wałesas Solidarność ihren Siegeszug antrat. Seewärts schaukeln Schiffe auf Reede, als die beiden Frauenzimmer ihre Drohung wahr machen und sich in voller Montur zu Wasser lassen. Krzysztof schüttelt den Kopf, da zwischen ihnen nicht mal in Sachen Badekultur Übereinstimmung herrscht. Die andauernden Meinungsverschiedenheiten und das Bier haben ihn auf eine Idee gebracht. Demnächst will er in Berlin sein eigenes Reisebüro gründen und Alternativtouren nach Danzig anbieten. „Dann miete ich für 20 Punks aus Prenzlauer Berg die Suite Nr. 226 im Grand Hotel Sopot, und wir machen eine Besichtigung im Wella-Haus.“ Seine Kamera würde solche Szenen mit Sicherheit lieben.