: Keine Lust mehr auf Teutonenwitze
Einst Besatzer, heute Partner: Der niederländische „Befreiungstag“ spiegelt das Verhältnis zu Deutschland. Doch bei einer Feier bleibt man unter sich
Aus Amsterdam Tobias Müller
Sitzt ein Deutscher in einem Restaurant in den Niederlanden. Der Kellner kommt. „Ich krieg ’n Bier“, sagt er. Darauf der Kellner trocken: „Krieg ist vorbei!“ Witze wie dieser kursierten jahrzehntelang in dem Land, das im Mai 1940 von Deutschland angegriffen und besetzt wurde. Bis zur Kapitulation in Wageningen am 5. Mai 1945, der seither als bevrijdingsdag begangen wird, ermordeten die Nazis drei Viertel aller niederländischen Juden, rund 102.000 Menschen, in Westeuropa die höchste Zahl. 30.000 Zivilisten starben durch Kriegshandlungen, etwa 20.000 während der Hungersnot im letzten Kriegswinter.
75 Jahre nach der Befreiung hätte Angela Merkel im renommierten Kunstmuseum in Den Haag die diesjährige 5.-Mai-Lesung halten sollen – auf Einladung von Premier Mark Rutte und des Nationaal Comité 4 en 5 mei, das in den Niederlanden sowohl Befreiungsfeiern als auch das Totengedenken am Vorabend organisiert. Merkel, so die Begründung, setze sich im Bewusstsein der historischen Verantwortung seit Jahren für „Frieden, Freiheit und Stabilität in Europa“ ein.
Dass die Lesung wegen des Corona-Ausbruchs abgesagt wurde, ändert nichts daran, dass die Versöhnung der Nachbarländer inzwischen einen weiten Weg zurückgelegt hat. Die Rolle Deutschlands und seiner Vertreter bei niederländischen Gedenkveranstaltungen ist ein Gradmesser dieser Entwicklung. Als 2012 Bundespräsident Gauck die Lesung zur Befreiung hielt, sprachen die Organisatoren von „historischer Bedeutung“. Im selben Jahr gab es eine heftige Diskussion über das Gedicht „Falsche Entscheidung“, mit dem ein 15-jähriger Schüler an seinen Großonkel, einen niederländischen SS-Angehörigen, erinnern wollte. Nach Protesten wurde der Beitrag zur nationalen Totengedenkfeier in Amsterdam gestrichen.
Im östlich von Arnheim gelegenen Dorf Vorden hat die Frage, ob die Prozession am 4. Mai auch die Gräber von zehn deutschen Soldaten passieren darf, Gerichte jahrelang beschäftigt. Die Gemeinde Wehl ganz in der Nähe dagegen empfängt zum Totengedenken jeweils eine Delegation aus der deutschen Partnerstadt Raesfeld – in der Grenzregion ist das keine Ausnahme. Keine deutsche Anwesenheit ist dagegen bei der zentralen Feier auf dem Damplatz in Amsterdam erwünscht. Als der damalige Botschafter Thomas Läufer ob der stark verbesserten Beziehung darüber sinnierte, löste das einige Diskussionen und eine klare Antwort aus.
Kranzniederlegung: Deutsche Politiker werden am 8. Mai in Berlin der Befreiung von der NS-Herrschaft gedenken. Vorgesehen ist eine Kranzniederlegung an der Neuen Wache. Anschließend will Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dort eine Rede halten. Der ursprünglich geplante Staatsakt wurde abgesagt.
Ausstellung: Die Open-Air-Ausstellung zu 75 Jahren Kriegsende ist ins Internet umgezogen: www.75jahrekriegsende.berlin abrufbar. (dpa, taz)
Dessen ungeachtet ist die Annäherung eine Tatsache. So sind die oosterburen, die östlichen Nachbarn, inzwischen eines der beliebtesten Urlaubsziele der Niederländer. Innerhalb der latent kriselnden EU sind sich Berlin und Den Haag in strikter Austerität treu verbunden. Es ist noch nicht lange her, dass man hierzulande Deutschland sogar als Garanten gegen den überall grassierenden Rechtspopulismus lobte.
Obwohl diese Einschätzung inzwischen revidiert ist, hört man Witze wie den oben nur noch selten. Das Schimpfwort moffen, mit dem Deutsche noch vor gar nicht allzu langer Zeit bedacht wurden, ist selbst beim Fußball selten geworden. Mit ihm verschwindet auch das Stereotyp des Befehle bellenden Teutonen im Rückspiegel. Krieg? Ist vorbei.
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