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Archiv-Artikel

Liebe kann Sünde sein

Sie sind tief gläubig und haben Sex vor der Ehe. Sie erhoffen sich Absolution durch die Beichte und lieben ihre Freunde. Wie junge Katholikinnen in Polen versuchen, mit diesem Widerspruch zu leben

AUS WARSCHAU MIA RABEN

Zosia sprach ganz leise durch das Holzgitter: „Ich hatte Sex mit meinem Freund.“ Der Priester schwieg. Dann sagte er: „Jesus ist wütend. Du wirst es sicher wieder tun. Also geh lieber gleich!“ Er verweigerte ihr die Absolution. Zosia wurde panisch und bat: „Nein, nein!“, dieses Mal sprach sie lauter. „Was soll ich tun?“, fragte sie, auch wenn es sonst nicht ihre Art war, zu flehen.

Der Priester, abwartend, schien den Moment zu genießen. Dann sagte er: „Nun gut, mein Kind. Sag mir, wie oft du in die Kirche gehst.“ Zosia antwortete wahrheitsgemäß: „Einmal im Monat.“ Der Priester sagte bestimmt: „Das reicht nicht aus“, und trug ihr auf, ab sofort alle in diesem Jahr verpassten Sonntage aufzuholen und in den nächsten Monaten so oft in die Kirche zu gehen, bis sie auf einen Jahresdurchschnitt von einmal die Woche käme.

Es fällt Zosia nicht leicht, das zu erzählen. Sie lacht zwischendurch immerzu, als wäre die Geschichte lächerlich. Dabei erleben viele junge, unverheiratete Frauen in Polen Ähnliches. Zosia weiß es von ihren Freundinnen Paulina, Marta, Asia … Doch nur selten sprechen sie untereinander darüber, mit der Familie nicht, und schon gar nicht im Rahmen der Kirche.

Zwar meinen über die Hälfte der Polen, dass Sex vor der Ehe keine Sünde sei. Doch Konservative und die mächtige katholische Kirche sehen das anders. Deswegen fühlen sich viele Mädchen innerlich zerrissen. Hier die Kirche, die Traditionen, die Eltern, und dort die (sexuelle) Freiheit und die Aufklärung.

Zosia ist 22 Jahre alt, studiert Klavier und Tontechnik an der Warschauer Chopin-Musikakademie und trägt Puma-Turnschuhe. Zosia liebt ihren Freund, den Musiker Maciek, der Gedichte des ukrainischen Schriftstellers Juri Andruchowycz vertont. Noch wohnt Zosia in einem vorstädtischen Plattenbau bei ihren sehr religiösen Eltern. Wie fast alle Polen ist Zosia in den katholischen Glauben hineingeboren worden.

Als Zosia an jenem Tag aus dem Beichtstuhl trat, habe sie sich schuldig, verlassen und einsam gefühlt, erzählt sie. Ihre Mutter, sagt sie, würde sich wünschen, dass sie öfter beichten ginge, wie früher als Kind. Aber Zosia geht nur noch einmal im Jahr, kurz vor Ostern. Sie erinnert sich dann, dass Jesus schmerzvolle Qualen am Kreuz erlitten hat. Und weil er „auch für mich“, wie sie sagt, sterben musste, wolle sie sich bessern, wie sie gelobt.

Dass Zosia die Schmerzen Jesu so persönlich nimmt, mag für weniger religiöse Menschen vielleicht schwer verständlich sein. Für Menschen, die alles Transzendentale verneinen und Glauben als lästige Erscheinung betrachten, die es mit der angeblich triumphierenden Aufklärung wegzuwischen gilt. Aber Religion ist eben nicht zu verstehen.

Zosia hat bei der letzten Beichte auch Sünden verschwiegen, zum Beispiel, dass sie die Pille nimmt. Dabei findet sie, das sei immer noch besser als Abtreibung. Wenn sogar im Beichtstuhl die Wahrheit lieber gemieden wird, wo bleibt da noch der Sinn dieses Sakraments? Der polnische Soziologieprofessor Andrzej Wójtowicz sagt: „Die Beichte ist vor allem eine Art der gesellschaftlichen Kontrolle, die uns die Grenzen unseres Fortschritts auferlegt.“

Zosias Freund Maciek sieht das ähnlich. Nach dem Beichttag lag Zosia abends neben Maciek im Bett. „Ich war heute bei der Beichte“, sagte sie, während sie an die Decke starrte. „Und, wie war’s?“, fragte Maciek, der schon ahnte, was kommen würde, denn Zosia war an diesem Abend lustlos und wortkarg.

Sie erzählte Maciek alles in Ruhe. Dass sie sich danach schrecklich gefühlt hatte. Dass der Priester verbal ziemlich brutal geworden war. Dass sie weinen musste. Dann fragte Maciek, indem er sie mit dem Kosenamen ansprach: „Aber Zosiu, was hattest du erwartet?“ „Ich weiß nicht so genau“, sagte sie, „vielleicht, dass er meine aufrichtige Liebe zu dir heraushört und dass er mich deswegen keine Sünderin nennt.“

Als er von Zosias Konflikt hört, muss Szymon, ein 27 Jahre alter Grafiker aus Warschau, lachen. Dann schlägt er sich auf die Stirn. „Für mich macht das alles überhaupt keinen Sinn!“, sagt er. Szymon geht weder in die Kirche noch zur Beichte. Er steht auf Heavy Metal. Sein Lieblingsfilm heißt „Ich spucke auf dein Grab“.

Ob es für Szymon schwer ist, in einem Land zu leben, wo 95 Prozent der Menschen katholisch sind? „Nein, wieso? Das ist doch nur Schein!“, sagt er. „Die meisten rennen doch nur in die Kirche, weil sie es von ihren Eltern abgeschaut haben. Im Alltag leben sie gar nicht nach den Regeln!“ Szymon findet die Kirche absurd. „Die Priester sollen mit den Menschen reden und sich über das Leben Gedanken machen, statt teure Autos und Häuser zu kaufen!“

Es gibt diese Priester, die mit den Menschen reden und sich Gedanken über das Leben machen. Einer davon predigt in Zosias Lieblingskirche, der Kirche des heiligen Jacek in der Warschauer Altstadt, direkt neben dem Dominikanerkloster. In der Kirche stehen Palmen. Durch die großen Fenster dringt viel Licht in das weiß getünchte Kirchenschiff. Für eine katholische Kirche ist sie bescheiden geschmückt.

Vater Tadeusz Bartos, der jüngst das Verbot der Schwulenparade in Warschau öffentlich kritisierte, hat braune Locken, sein Gesicht prägen milde, aber entschlossene Züge. Er lehnt sein Mountainbike an die Kirchenmauer und nimmt die Walkman-Stöpsel aus den Ohren. Als er sich Zosias Geschichte hat berichten lassen, überlegt er kurz und sagt: „Beichte ohne Barmherzigkeit kann der Psyche schaden. Ja, leider sind viele Priester heutzutage überfordert.“

Bartos hat Philosophie und Theologie in Krakau studiert. „Die Menschen fangen an zu beichten als achtjährige Kinder. Ihr ganzes Leben lang kommen sie aus dieser kindlichen Rolle nicht heraus. Das ist ein strukturelles Problem.“ Wenn es nach ihm ginge, wäre die Beichte nicht verpflichtend und viel persönlicher. Er könnte sich sehr gut vorstellen, ein Gespräch an einem Tisch zu führen, statt anonym durch ein Holzgitter mit den Gläubigen zu sprechen. „Aber davor haben die Menschen Angst. Sie wollen dem Priester nicht gegenübersitzen“, sagt Bartos.

Nein, dem Priester gegenübersitzen will auch Paulina, eine Freundin von Zosia, nicht. „Aber so, wie es jetzt ist, ist es auch nicht gut. Es gibt tausende Jugendliche, die darunter leiden, dass ihr Leben nicht den Regeln entspricht“, sagt sie. Es sei ein riesiges Tabu und eine harte Nuss für junge Polen, die mit ihrem angeblich sündhaften Dasein fertig werden müssten.

Dabei scheint es, als würde auch die Diskrepanz zwischen „Ist“ und „Soll“ die Zuneigung für die Kirche aufrechterhalten. Obwohl die anachronistischen Regeln irgendwie nerven, fern vom Alltag sind und manchen sogar den Schlaf rauben, bindet die Strenge der Kirche Jugendliche auch an sich. Die „Generation JP2“, also jene, die Papst Johannes Paul II. aus tiefstem Herzen nachtrauert, will konservative Autorität, wenn sie mit Toleranz und Barmherzigkeit gepaart ist. Moralische Regeln aufstellen ja, aber beim Beharren darauf niemanden zurückstoßen, so scheint die Devise zu lauten.

Die Kirche betrachtet den Mensch von heute als große Herausforderung. Besonders im Westen ist die Suche nach Transzendenz aus der Mode gekommen und die Wenigstens wollen eine tiefere Verantwortung des Menschen anerkennen. Afrika ist eben weit weg.

Zudem scheinen sich viele Menschen über nichts mehr zu wundern, selbst nicht über Dinge, die eigentlich geheimnisvoll sind. Dabei fällt auf, dass Menschen, die Gott suchen, meist einen guten Umgang mit anderen Menschen haben. Einen Glauben besitzt man nicht wie einen Tisch. Im Hebräischen gibt es den Begriff des Glaubens gar nicht. Was mit Glaube übersetzt wird, ist „Emuna“, also „Treue“ oder „Vertrauen“.

Auf die Frage, was Gott wirklich von uns will, hat Papst Benedikt XVI. noch in der Zeit als Joseph Ratzinger im Gesprächs mit dem Journalisten Peter Seewald geantwortet: „Dass wir Liebende werden, dann sind wir nämlich seine Ebenbilder. Denn er ist … die Liebe und er möchte, dass es Geschöpfe gibt, die ihm ähnlich sind und die dadurch aus der Freiheit ihres eigenen Liebens heraus wie er werden …“

Nichts anderes wollen auch Zosia und Paulina: die „Freiheit ihres eigenen Liebens“ leben.