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Das gute Leben aller

In der Coronakrise zeigen sich die Nachteile der umfassenden Privatisierungen und ihre Auswirkungen auf das Alltagsleben sehr deutlich. Ein Autor:innenkollektiv erhebt Einspruch und macht konkrete Vorschläge für eine Neuorientierung

Von Emanuel Herold

Im Angesicht der aktuellen Verunsicherung und des wachsenden Leids ist das Nachdenken über Zukunft eine sensible Angelegenheit. Die Beschäftigung mit der Frage, wie die Coronakrise unsere Gesellschaft verändern wird, kippt schnell ins Eitle und Frivole, wenn Hoffnungen auf eine soziale Transformation mit allzu viel Gewissheit daherkommen.

Der Kontrast zu den Mitteilungen jener Akteure, die die Fundamente unseres derzeit reduzierten Alltags absichern, ist erheblich. Die neuerdings beklatschten Berufsgruppen, insbesondere das Personal in Kliniken und Pflegeheimen, reagiert gereizt: „Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken“, sagte etwa die Berliner Krankenschwester Nina Böhmer in diversen Medien stellvertretend für viele ihrer Kolleg:innen. Das medizinische Personal verlangt eine Politisierung seiner Lage jenseits freundlicher Gesten.

Die unabgegoltenen Ansprüche der Pfleger:innen auf faire Löhne und sichere Arbeitsbedingungen verweisen auf ein tiefgreifendes Defizit unserer Zeit: Die breite Öffentlichkeit hat die „Fundamentalökonomie“, die unseren alltäglichen Lebensstandard garantiert, zu lange außer Acht gelassen. Dieser Begriff steht im Zentrum der anregenden und hochaktuellen Überlegungen eines britisch-italienischen Au­tor:in­nen­kol­lektivs, dessen gleichermaßen lebensnahes wie weitblickendes Buch „Die Ökonomie des Alltagslebens“ bereits vor der Coronakrise auf Deutsch erschien.

Die Fundamentalökonomie umfasst Güter und Dienstleistungen, die die Infrastruktur eines zivilisierten Lebens ausmachen. Das Leistungsspektrum reicht von materiellen Komponenten wie Straßen, Wärme- und Stromleitungen über Bankdienstleistungen und den Lebensmitteleinzelhandel bis zu providentiellen Diensten wie Bildung, Pflege und Gesundheit. Der Begriff liegt damit quer zur Unterscheidung von öffentlichem und privatem Sektor: Nicht die Eigentümerschaft ist hier der Ansatzpunkt der Analyse, sondern der funktionale Beitrag bestimmter Branchen und Infrastrukturen zu einem guten Leben.

Die Bereitstellung der fundamentalen Güter und Dienste ist ein politischer Kampfplatz. Die Autor:innen erinnern an den Aufbau von Abwassersystemen und Trinkwasserversorgung in kommunaler Eigenregie im 19. Jahrhundert. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine Zentralisierung solcher und weiterer Leistungen in den Händen der expandierenden Wohlfahrtsstaaten Europas. Diese vollzogen in den 1980ern dann eine politökonomische Wende, deren Galionsfigur Maggie Thatcher war und deren tot gekautes Label „Neoliberalismus“ heißt. Es folgten drei Jahrzehnte Privatisierungswellen und Outsourcingprozesse, die die Fundamente des Alltags neu ordneten.

Im Zuge der Privatisierung fundamentalökonomischer Betriebe prallen die langfristigen Investitionsbedarfe auf das kurzfristige Interesse an zügig wachsenden Unternehmenserträgen und Kapitalentnahmen. Diese Spannung wird aus Sicht der Autor:innen typischerweise auf zwei Wegen aufgelöst: Einerseits durch Druck auf andere Stakeholder, insbesondere die Belegschaft, die sich mit niedrigen Löhnen und irregulären Arbeitsverhältnissen konfrontiert sieht. Andererseits durch Methoden des „Financial Engineering“, wie etwa die Erzielung steuerlicher Vorteile durch den Aufbau eines Netzes von Tochterunternehmen. Wie beide Wege zusammenwirkend die Gesamtsituation verschärfen, lässt sich aktuell auch in der deutschen Pflegebranche beobachten, wo die Aufstellung eines allgemein verbindlichen Tarifvertrags insbesondere von der Zersplitterung der privaten Anbieter erschwert wird.

Foundational Economy Collective: „Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik“. Aus d. Engl. v. Stephan Gebauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 263 S., 18 Euro

Insgesamt wurde über die Jahre eine zuvor ungekannte Komplexität und Instabilität in die Fundamentalökonomie hineingetragen, da die hohen Renditeerwartungen von anderen privatwirtschaftlichen Branchen auf die Bereitstellung alltäglicher Güter und Dienste übertragen wurden. Das Buch schildert die gravierenden Folgen für Staat und Gemeinwesen anhand des Pflegesektors und der Bahnnetze in Italien und Großbritannien. Es liefert damit auch erhellende Schlaglichter auf die sozialen Katalysatoren des Populismus in beiden Ländern. Das konzise und hilfreiche Vorwort von Wolfgang Streeck schlägt hier einige Brücken zur deutschen Lage der Dinge.

Solchen Problemlagen stellen die Autor:innen zwar Beispiele für erfolgreiche Rekommunalisierungen gegenüber, wie. im Falle der Pariser und Berliner Wasserversorgung. Allerdings garantiert allein der staatliche Betrieb eines fundamentalen Dienstes nicht dessen Qualität und Effektivität. Zudem ist der faktische Beitrag privater Akteure zur Fundamentalökonomie anzuerkennen. Man kann und soll die Uhr also nicht einfach zurückdrehen.

Gemeinwohlfördernde Standards

Anstelle von Verstaatlichungen schlagen sie daher vor, das Verhältnis von öffentlicher Hand und privaten Unternehmen neu zu verhandeln. Über „gesellschaftliche Betriebslizenzen“ sollen Unternehmen, die fundamentale Leistungen erbringen, unter anderem hinsichtlich des Finanzierungsmodells sowie der Kontroll- und Rechenschaftsverfahren auf gemeinwohlfördernde Standards verpflichtet werden.

Diese Ideen zu einer „reformierten Wirtschaftsverfassung“ zielen insbesondere darauf, kurzfristige Renditeinteressen aus der fundamentalökonomischen Sphäre zu verbannen. Begleitet werden diese Vorschläge von Forderungen nach der Besteuerung von Bodenwerten und Erbschaften zur Absicherung der staatlichen Finanzierung der Fundamentalökonomie. Hinzu kommt der Wunsch nach neuen intermediären Allianzen zwischen Gewerkschaften, Interessenverbänden und NGOs zur Durchsetzung sozialer und ökonomischer Ansprüche.

Das Personal in Kliniken und Pflegeheimen reagiert gereizt

Voraussetzung all dessen ist, dass Politiker:innen und Bürger:innen wechselseitiges Misstrauen abbauen und sich gemeinsam über eine Priorisierung der gesellschaftlichen Bedürfnisse verständigen. Angelehnt an moralphilosophische Gedanken von Adam Smith, Amartya Sen und Martha Nussbaum liegt das Erfolgskriterium der Fundamentalökonomie darin, möglichst vielen Menschen – also nicht nur Staatsbürger:innen, sondern zum Beispiel auch Geflüchteten und kommenden Generationen – ihre Leistungen zugänglich zu machen, um die freie Entfaltung menschlicher Fähigkeiten zu befördern.

Einiges in diesen Überlegungen bleibt skizzenhaft, was aber durchaus gewollt ist. Die Autor:innen werben explizit für einen experimentellen Politikansatz, der regionale Besonderheiten ernst nimmt. Sie stoßen durch die Verwerfungen der aktuellen Krise hindurch ins Herz unseres gesellschaftlichen Selbstverständnisses, wenn sie „die europäische Frage“ stellen, warum sich in unseren wohlhabenden Gesellschaften so viele nicht entfalten können.

Seminare an Universitäten in London, Turin und Lecce sind diesem Buch vorausgegangen. Die Autor:innen widmen es dem Krankhauspersonal in diesen Städten. In Anbetracht der besonderen Last, die diese Menschen derzeit für unser Gemeinwesen tragen, sind wir dazu aufgefordert, uns entlang der Stoßrichtung dieses Buchs weiterzudenken und zu engagieren.

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