: Geschichten machen Mut
Im Juni versammeln sich Kinder- und Jugendtheater beim Braunschweiger Festival „Hart am Wind“. Unser Autor hat sich die Szene bei einem Kindertheater-Treffen in Hannover angeschaut
Von Joachim Göres
„Ich habe weniger Schokolade bekommen als meine Freundin.“ Sachbearbeiterin Lizzie Kualahop vom Amt für Ungerechtigkeit liest diesen Satz vom Blatt ab, überlegt kurz und haut dann einen Stempel auf das Schriftstück. „Ungerecht!“, bescheinigt die Beamtin dem Antragsteller. Sie zieht ein zweites Schreiben aus ihrem Aktenordner und liest: „Ich bin mit dem Kopf gegen die Tür gelaufen, das tut weh.“ Wieder denkt die Sachbearbeiterin nach, nimmt einen anderen Stempel und ruft aus: „Abgelehnt! Das ist nicht ungerecht, das ist schön blöd!“ Beim dritten Fall („Mein großer Bruder kriegt mehr Taschengeld als ich“) zögert sie und wendet sich an die Zuschauer: „Mehr Geld ist nicht gerecht, auf der anderen Seite ist der Bruder aber auch älter. Das ist schwierig. Was meint ihr?“
Die Szene stammt aus dem Stück „Wolle im Wasser“, das das Musiktheater Lupe aus Osnabrück kürzlich auf der Kinderkulturbörse in Hannover präsentierte. Ein Stück für Kinder ab vier Jahren, in dem das Känguru Lizzie Kualahop dem Schaf Wolfgang Winkler („Du kannst Wolle zu mir sagen“) hilft, Ersatz für eine geklaute Wiese zu beschaffen. Die Schauspielerinnen Tine Schoch und Kathrin Orth sind mit dem Stück über Heimat und Gerechtigkeit unterwegs. Zum Repertoire gehört auch „Wolle und Gack“ – ein Theaterstück in deutscher und syrischer Sprache über ein Huhn und ein Schaf mit unterschiedlicher Lebensart. Die Lupe spielt häufig in Schulen und Kulturzentren.
Magischer Realismus
„Wir kommen auf jährlich 100 Vorstellungen. Man wird davon nicht reich, doch wir können davon leben“, sagt Johann Karl König vom Hermannshoftheater in Wümme. Er und seine Frau Antje benutzen für ihr „Theater des magischen Realismus“ extra angefertigte Figuren, die Stücke dauern meist eine Schulstunde. „Kinder können nicht mehr so lange bei einer Sache bleiben“, sagt König und fügt hinzu: „Wir inszenieren bewusst langsam, lassen ein Bild lange stehen und erreichen die Kinder trotzdem, indem wir sie in eine Geschichte hineinziehen, durch eine besondere Sprache, schönes Material und aufwendige Kostüme.“
„Peter und der Wolf“, Dornröschen, „Vom Fischer und seine Frau“ – das sind die am häufigsten gespielten Märchen, die von den Schauspielern gern etwas abgewandelt werden. Außer in Schulen und Kitas werden die 15 zum Repertoire gehörenden Stücke auch im eigenen Theater in Wümme aufgeführt. „In Ostdeutschland merken wir oft eine größere Wertschätzung fürs Puppentheater. Jede kleine Stadt hatte zu DDR-Zeiten ihre eigene Bühne“, sagt König. Jedes Jahr wird das Programm um ein Stück erweitert, dafür werden neue Figuren in Auftrag gegeben. „Eine neue Produktion kostet bis zu 30.000 Euro. Bei solchen Summen ist für uns die Förderung durch Stiftungen wichtig“, betont König.
Kaninchen im Schullandheim
Das Theater zwischen den Dörfern befindet sich in einem einstigen Schullandheim zwischen Bredenbeck und Steinkrug bei Hannover. Dort leben Noa und Fabian Wessel. Auf ihrer kleinen Bühne stellen sie zusammen mit weiteren Schauspielern ihre neuesten Produktionen bei Premieren vor, ansonsten sind sie viel bei Festivals und in Schulen und Kitas unterwegs. In „Das platte Kaninchen“ geht es um ein leblos wirkendes Kaninchen, das von einem Hund und einer Ratte entdeckt wird. „Was machen wir nur mit ihm?“ – eine Frage, die sich auch ans Publikum ab vier Jahren richtet. Eine Aufführung mit viel Musik und langen Passagen, in denen nicht geredet wird. „Wir nehmen Tempo und Lautstärke raus, das funktioniert“, sagt Noa Wessel und ergänzt: „Wir wollen Mut machen, nicht wegzuschauen, wenn es Probleme gibt.“ Sie beobachtet, dass sich immer mehr Stücke an Kinder unter vier Jahren richten. „Viele Eltern wollen schon ihre jüngsten Kinder gezielt fördern. Ich bin skeptisch, ob man Zweijährige in eine künstliche Welt setzen soll“, sagt die Schauspielerin.
Gute Figuren aus Bremen
Mit „Mensch, Puppe! Das Bremer Figurentheater“ gibt es in der Hansestadt seit 2011 ein Privattheater mit 80 Plätzen. Vormittags spielt man für Schulen und Kindergärten, nachmittags setzt man mit „Die Prinzessin auf der Erbse“, „Oh, wie schön ist Panama“ oder „Schneewittchen“ auf Familien, abends stehen Romanbearbeitungen wie „Kleiner Mann – was nun?“ oder „Die Physiker“ für Ältere auf dem Programm. „Die Nachmittage sind sehr gut besucht und für uns auch sehr wichtig für die Finanzierung“, sagt Claudia Spörri, eine der drei Bremer Puppentheatermacher. Um die Kinder zu erreichen, setzt sie auf das Zusammenspiel von Puppe, Maske, Körper, Musik und Stimme.
Vom 8. bis 14. Juni ist in Braunschweig das norddeutsche Kinder- und Jugendtheaterfestival „Hart am Wind“ geplant – trotz Corona. Die Verantwortlichen überlegen derzeit, wie sie dabei vorgehen. Aktuelle Informationen unter www.festival-hartamwind.de/braunschweig/
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