piwik no script img

Azubis als Krisenverlierer

Auszubildende in Lebensmittel-Läden lernen derzeit nicht – sie schuften. Jene, die im April ihren Abschluss machen sollten, bleiben nun noch länger als billige Arbeitskräfte erhalten

„Es wäre wünschenswert, wenn die Arbeitgeber ihren Auszubildenden freiwillig mehr bezahlen würden“

Sandra Schmidt, Ver.di

Von Simone Schnase

Markus Schulze (Name geändert) kann aufatmen: Noch am Freitag morgen befürchtete er, seine Abschlussprüfung als Kaufmann im Lebensmittel-Einzelhandel erst im Herbst absolvieren zu können. Nur wenig später teilte die Indus­trie- und Handelskammer (IHK) mit: Aufgrund der Corona-Epidemie werden die Prüfungen zwar verschoben, allerdings auf Mitte Juni.

Schulze absolviert in einem Bremer Bioladen seine Ausbildung und hätte eigentlich am 29. April seine Prüfung gemacht: „Unser Berufsschullehrer hat gesagt, dass wir die wahrscheinlich erst in einem halben Jahr machen können mit der Begründung, im Sommer hätten er und seine Kollegen schließlich Urlaub.“ Ihn empört nicht nur diese Aussage, sondern auch die Umstände, unter denen er und viele andere Auszubildende derzeit arbeiten müssen.

„Der Lebensmittelhandel nutzt die Situation sehr, sehr aus“, sagt Schulze. Viele Azubis würden angesichts des enorm hohen Arbeitsaufkommens als billige Arbeitskräfte eingesetzt. Er selbst, so berichtet er, habe sich mühsam erkämpfen müssen, an den regulären Schultagen zu Hause bleiben zu dürfen, um zu lernen: „Aber ich ecke bei meinem Chef sowieso dauernd an.“ Das Lernmaterial bekommen die Auszubildenden nach Hause, aber die Lernbedingungen, sagt Schulze, seien schlecht: „Ich habe das Gefühl, dass es überhaupt kein Konzept dafür gibt – das ist alles total unstrukturiert.“

Von anderen Azubis wisse er, dass sie wegen der Corona-Krise eigentlich gar keine Zeit für den theoretischen Teil ihrer Ausbildung hätten. Sie müssten nun in Vollzeit arbeiten und zusätzlich Überstunden schieben: „Ich selbst muss ebenfalls mehr Arbeitsstunden als sonst leisten“, sagt er. Denn selbst vor dem kleinen Bioladen, in dem er arbeitet, machen die HamsterkäuferInnen nicht Halt.

Zur hohen Arbeitsbelastung kommt die Angst vor der Infektion: „Während ausgerechnet Läden wie Netto schon tagelang Plexiglasscheiben zum Schutz der Kassierer angebracht hatten, mussten wir immer noch mit bloßer Hand kassieren und Brötchen verkaufen“, sagt Schulze. Mittlerweile sei auch an seinem Arbeitsplatz nachgebessert worden, „allerdings durch Kollegen – nicht durch den Chef“. Eigentlich, sagt er, müssten sowohl die Angestellten als auch die Auszubildenden angesichts dieser Situation mehr Geld bekommen, „allein schon als Gefahrenzulage“. Die Mittel dafür seien im Lebensmitteleinzelhandel zurzeit ja durchaus vorhanden.

Das sieht auch Sandra Schmidt von der Gewerkschaft Ver.di so: „Es wäre wünschenswert und ein Zeichen der Wertschätzung, wenn die Arbeitgeber ihren Auszubildenden angesichts der momentanen Umsätze freiwillig mehr bezahlen würden.“ Und spätestens ab dem Zeitpunkt der regulären Prüfungstermine sei es angebracht, die Auszubildenden im dritten Lehrjahr ganz normal einzugruppieren: „Die können ja nichts dafür, dass ihre Ausbildung plötzlich länger dauert als vorgesehen.“

Schulze wirft seinem Arbeitgeber und der Lebensmittelbranche vor, sich an den MitarbeiterInnen vorbei an der Krise zu bereichern, sowie der IHK, sich nicht genug um die Arbeitsbedingungen und die Belange der Auszubildenden zu kümmern. „Die IHK hat einfach bloß auf das Recht der Auszubildenden verwiesen, noch ein halbes Jahr länger im Betrieb bleiben zu dürfen.“ Dieses Recht betrifft normalerweise jene, die ihre Abschlussprüfung im ersten Anlauf nicht geschafft haben und deswegen ihre Ausbildung bis zur Nachprüfung verlängern müssen – in Corona-Zeiten bedeutet es: Sämtliche Azubis haben das fragwürdige Recht, auch über ihre reguläre Ausbildungszeit hinaus zum mickrigen Lehrlingsgehalt in ihren Betrieben weiterzuarbeiten.

Diese Zeit ist nun zwar kürzer als befürchtet, dennoch werden die Prüfungen um immerhin fast zwei Monate nach hinten verlegt. Diese Entscheidung sei, anders als bei den regulär stattfindenden Abiturprüfungen, nötig gewesen, sagt IHK-Geschäftsführer Michael Zeimet: „Wir haben bei zwei- bis dreihundert Prüflingen keine Möglichkeiten, die Abstandregeln einzuhalten und die praktischen Prüfungen können teilweise nicht stattfinden, weil Betriebe ja geschlossen haben.“

Natürlich, sagt er, müsste gewährleistet sein, dass die Ausbildungspläne erfüllt und die Inhalte so gut wie möglich vermittelt würden, „aber alle Beteiligten müssen zurzeit auch den praktischen Blick bewahren“. Die Vorwürfe Schulzes beträfen nicht die Mehrzahl der Lebensmittelhändler, sagt Zeimert: „Wir haben deswegen einzelne Anrufe erhalten und in diesen Fällen immer vernünftige Lösungen gefunden.“ Er glaube nicht, „dass die Mehrheit der Unternehmen die Gunst der Stunde nutzt, um Auszubildende als billige Arbeitskräfte herzunehmen“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen