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Archiv-Artikel

Das Gerechte und das Übel

Den modernen Mythen vom „Sachzwang“ und „Wirtschaftskreislauf“ zum Trotz – im Zentrum des Politischen stehen das Gemeinwohl und die Gerechtigkeit

Rainer Forst

45, ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und Sprecher des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. Zuletzt veröffentlichte er das Buch „Das Recht auf Rechtfertigung“, demnächst erscheint: „Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse“ (beide Suhrkamp).

VON RAINER FORST

Die moderne Gesellschaft hält sich zugute, das Zeitalter der Mythen hinter sich gelassen zu haben. Und doch produziert sie, wie wir seit der „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer wissen, ihre eigenen Mythen nur umso intensiver. Auch heute droht Aufklärung in ihr Gegenteil umzuschlagen, etwa dort, wo erklärt wird, welche „Opfer“ nötig waren und sind, um die Weltfinanzkrise abzufedern, und weshalb die kommenden Jahre zu solchen knapper öffentlicher Haushalte und damit – als wäre das ein natürlicher Lauf der Dinge – reduzierter sozialer Leistungen werden. „Alternativlos“ scheint es, die zu belasten, die von den gescheiterten Finanzabenteuern ohnehin nicht profitierten und die in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit und leerer öffentlicher Kassen doppelt in Mitleidenschaft gezogen werden – schuldlose Opfer, hinzunehmen ob des Waltens scheinbar transzendenter Kräfte.

Der Mythos, der hier am Werke ist, ist der des eigenen Gesetzen folgenden Wirtschaftskreislaufs – als gesellschaftliche Blutzirkulation, die man nur bei Gefahr großer sozialer Gesundheitsschäden beeinträchtigen dürfe. Diesem Bild zufolge waren die gigantischen Großinvestitionen im Rahmen der Krise medizinische Notfallmaßnahmen für „notleidende“ Banken und Unternehmen; auf keinen Fall aber sei an eine größere Veränderung des Kreislaufs zu denken.

Schaut man auf die Ergebnisse von Pittsburgh (und ihre Realisierungschancen), wird es eher auf partielle Reparaturen hinauslaufen denn auf tiefgreifende Strukturveränderungen. Die seit Jahrzehnten diskutierte Steuer auf Finanztransaktionen wird es nicht geben, obwohl sie ein Anfang wäre.

Warum ist hier von einem Mythos zu sprechen? Die mythische Erzählung handelt von Mächten, die das Leben der Menschen auf willkürliche Weise bestimmen; die Menschen sind ihnen ausgeliefert. Die Wege der Götter und Dämonen sind unberechenbar, auch wenn es immer wieder Propheten und Seher gibt. Man kann die Götter mit Opfern besänftigen; man kann wie Odysseus versuchen, sie zu überlisten, aber ihnen entgehen kann man letztlich nur, indem man aufhört, an sie zu glauben. Moderne Mythen kommen in gewandelter Gestalt daher. Sie beanspruchen, auf der Höhe wissenschaftlicher Erkenntnis zu sein. Moderne Mythen wollen keine sein und argumentieren mit Sachzwängen. Die einzig mögliche Welt muss ihnen zufolge mit all ihrer Tragik hingenommen werden.

Bis vor kurzem hätte man gedacht, der Zusammenbruch der deregulierten Finanzmärkte und die Teilverstaatlichung von Banken sowie all die Details über die Hintergründe der Krise hätten den Mythos vom nicht durch staatliche Eingriffe zu behindernden ökonomischen Blutkreislauf nachhaltig zerstört. Doch dem scheint nicht so zu sein, blickt man auf neuere Entwicklungen.

Diejenigen, die seit Jahr und Tag der Deregulierung das Wort redeten, mahnen nun schon wieder zur „ökonomischen Vernunft“ und werden mit Wählerstimmen belohnt. Dies belegt die Stärke des Rechtfertigungsnarrativs der ökonomischen Eigengesetzlichkeit: Hieß es zuvor, staatliche Eingriffe seien schädlich, heißt es nun, dass eine gehörige Blutspende an öffentlichen Geldern nötig war, um den Kreislauf zu erhalten, er nun aber wieder halbwegs funktioniere – mitsamt den alten Gesetzlichkeiten von freien Märkten, staatlicher Zurückhaltung, Lohnbescheidenheit et cetera. Die Götter des Marktes verlangen weiterhin ihre Opfer.

Es ist an der Zeit, sich der eigentlichen Dimension dieser Vorgänge bewusst zu werden. Was steht hier auf dem Spiel? Es ist nicht weniger als unsere Eigenschaft, politische Wesen zu sein, die sich zutrauen, im Modus des demokratischen Streits hin zur Entscheidungsfindung über die im Sinne des Gemeinwohls zu regelnden Dinge einer „res publica“, einer öffentlichen Sache, zu befinden.

Dabei gehen wir davon aus, dass der Raum des politisch zu Beurteilenden und kollektiv zu Bestimmenden nicht durch Götter und Dämonen schon besetzt ist. Seit Platons „Politeia“, dem Grundbuch unserer Tradition des politischen Denkens, sind wir aufgefordert, den Bereich des Mythos und der Höhle, in der wir nur Schattenbilder sehen, zu verlassen und die Gerechtigkeit nach Maßstäben der öffentlichen Vernunft zu realisieren.

Platon fand, dies sei die Aufgabe der wenigen Wissenden, der Philosophenkönige, aber auch das wurde als Mythos überwunden. Wir müssten unser Verständnis des Politischen grundsätzlich überdenken, wenn wir es mit einer fremden Kraft zu tun hätten, die unsere Handlungsmöglichkeiten nicht nur beschränkte, sondern determinierte, weil sie eigenen Gesetzen folgt, die eherner sind als das, was wir uns demokratisch ausdenken und gestalten könnten.

Es ist nicht der „starke Staat“ mit seinem besonders in Deutschland obrigkeitlichen Unterton, den wir brauchen, um Politik ins Werk zu setzen. Es ist ein Staat, der sich nicht als Magd „der Ökonomie“ versteht, sondern als Anwalt des Gemeinwohls – und der Gerechtigkeit.

Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, wie John Rawls sagt, und sie bedarf der politischen Autonomie der BürgerInnen eines Gemeinwesens, die sich darüber streiten, was das heißt, die aber wissen, dass es grundsätzlich in ihrer Macht steht, über das gemeine Wesen zu befinden. Wenn das nicht mehr zuträfe, wäre Politik nur noch Theater – gelegentlich erhält man einen Vorgeschmack davon. Im demokratischen Streit um das Gerechte muss das Argument für einen „schlankeren“ Staat und mehr Autonomie für gesellschaftliche Institutionen als das gesehen werden, was es ist: nicht als „alternativloser“ Hinweis auf die Spur der Götter, sondern als eine von einer Reihe möglicher Positionen. Und entscheidend muss der Gesichtspunkt der Gerechtigkeit sein. Die Qualität einer Gesellschaft, die für sich Gerechtigkeit beansprucht, bemisst sich an dem, was ihre Institutionen für die Lebensaussichten jener tun, die am schlechtesten gestellten sind. Ihr Einspruch ist, was zählt.

Eine Gesellschaft, die, wie Augustinus sagt, keine Räuberbande ist, muss den Anspruch erheben, dass ihre Grundstruktur gerecht ist bezeihungsweise sie dies zumindest anstrebt. Wir müssen politische Ordnungen als „Rechtfertigungsordnungen“ sehen, und wir müssen ein kritisches Auge darauf haben, welche Gründe und Rechtfertigungsnarrative in ihnen dominieren. Da gibt es eine Reihe von Kandidaten mit unterschiedlichen Zuschnitten, in denen sich moralische, religiöse, konventionelle oder ökonomische Diskurse überschneiden. Aber eine Ordnung, die in ihrer Mitte ein Narrativ hätte, das den Spielraum der Politik drastisch beschnitte und die Gerechtigkeit an andere Imperative übergäbe, hörte auf, eine politische Rechtfertigungsordnung zu sein.

L’État, c’est moi. Der Titel dieser Reihe fragt uns, wie wir es mit dem Staat halten. Und wer darauf das Loblied der Selbstbegrenzung oder der Entbehrlichkeit des Staates singt, der muss sich fragen, wie viele Institutionen eine politische Ordnung eigentlich hat, deren Raison d’Être das Gemeinwohl ist. Nun gibt es viele Institutionen, die dem Gemeinwohl (mehr oder weniger) zuträglich sind, aber eine, deren alleinige Aufgabe dasselbe und vor allem das Herausfinden desselben ist, gibt es nur einmal. Sie heißt „Republik“, und das ist nicht nur das Ding, das uns ständig mit Formularen und Zahlungen gängelt, sondern das ist das Instrument, das wir geschaffen haben, um unser Leben gemeinsam zu regeln. Und hier nun gilt das Wort von der Alternativlosigkeit: Demokratische republikanische Politik gibt es nur dort, wo es ein Zentrum des öffentlichen Streits, der Willens- und Entscheidungsbildung und schließlich der gesellschaftlichen Selbsteinwirkung gibt. Man muss, bevor man den Staat zu den Akten legt, weiter darangehen, ihn zu demokratisieren – und besonders: Statt denen, die schlecht gestellt sind, Rechtfertigungen „jenseits der Rechtfertigung“ zu liefern, die die politisch-ökonomische Ordnung quasi als Naturgewalt darstellen, sollten sie in die Lage kommen, die wachsenden sozialen Asymmetrien anzuprangern und zu überwinden, die die Entwicklung unserer Gesellschaft in allen Studien, die dazu in den letzten Jahren gemacht wurden, kennzeichnen. Ob es Pisa ist oder die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung, sie zeigen eine Gesellschaft, die sich im Prozess der Refeudalisierung von Lebenschancen befindet: Der Mangel an Perspektiven wird sozial ebenso weitergegeben wie gesellschaftliche Privilegien.

Es gibt einen Aspekt des Rechtfertigungsnarrativs des „natürlichen“ Blutkreislaufs, der die Grenzen des Staates klar zu markieren scheint: die „Globalisierung“. Die Entgrenzung der Märkte und Finanzströme lasse es gar nicht mehr zu, Politik im Rahmen nationaler Autonomie zu denken, und ein regulierender Weltstaat sei weder möglich noch wünschenswert. Nun stimmt es, dass Politik heute nur noch begrenzt national agieren kann, wenn es, wie die Krise zeigt, um die globale Ökonomie geht. Aber es wird kein Argument für die Zurücknahme des Staates daraus. Dieser hat, als Agent der Gerechtigkeit, die Aufgabe, für die gerechte Regelung der Märkte weltweit – im Konzert mit anderen – einzutreten.

Dann globalisiert sich die Gerechtigkeits- und Gemeinwohlfrage, und neue Konflikte treten auf. Aber wieder gilt: Dies ist der Gegenstand der Politik und darf nicht ihr Ende sein. Es müssen trans- und supranationale Institutionen gebildet werden, die den Raum des Politischen erweitern und zurückerobern. Nicht nur die Grenzen zwischen Politik und Ökonomie müssen neu verhandelt werden, sondern auch die Rolle politischer Grenzen. Dabei sind nicht nur staatliche Akteure gefragt, aber wer könnte auf die Bedeutung des Staates in diesen Prozessen verzichten?

Nächsten Samstag: Birgit Sauer über die Paradoxien feministischer Staatskritik.

Bisher erschienen: Harald Welzer: „Die Kultur der Achtsamkeit“ (5. 9.), Saskia Sassen: „Die Bändigung des Staates“ (9. 9.), Norbert Bolz: „Die Stärken der Selbstbegrenzung“ (12. 9.), Wolfgang Sofsky: „Die Entbehrlichkeit des Staates“ (16. 9.), Günter Dux: „Die neue Hoheit des Staates“ (19. 9.), Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Freiheit ist ansteckend“ (22. 9.), Paul Nolte: „Weniger Staat, mehr Demokratie“ (26. 9.), Astrid Karl: „Von der Leistung zur Gewährleistung“ (30. 9.). www.taz.de/wahl09