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Durchtanzt von Komplexität

Es gibt Rollen wie beim Theater, für viele eigene Temperamente: das Andromedá Mega Express Orchestra bietet kollektive Jazzkompositionen. Für das Konzert im Berghain hat man sich mit dem Visual Artist Tim Novikov zusammengetan

Von Anselm Lenz

Im Grunde ist es ja nicht mehr zu ertragen. Oder wann hast du zum letzten Mal gute Nachrichten gelesen? Also wirklich gute Nachrichten, die von substanziellen Verbesserungen künden: „Produktivität schon wieder verdoppelt, Arbeitszeithalbierung für verbindlich erklärt!“ Oder: „Klimazerstörung ausgebremst, 24/7-Sammel-E-Taxis werden gebührenfrei!“

Gern auch: „Es hat ein Ende mit der Tristesse in Grau, denn Friedensreich Hundertwasser gewinnt postum den Kampf gegen die Verelendung der Architektur!“ Oder: „Wer braucht noch Massenflughäfen? BER in Tropenhaus mit separatem Hallenstrandbad für Nackitänze umgewandelt! Skaten nur draußen!“

Erkenntnis wird Grundgesetz: „Wer ein Zuhause hat, darf auch drin wohnen bleiben, ist doch klar!“ Dazu: „,Bild' deckt auf: Hübsche Neubauten sind wirklich kein Problem mehr! Bei uns sind alle willkommen.“ Tja, und auch die fieseste und härteste Grippewelle wird schließlich vom menschlichen Organismus besiegt werden, so oder so: „Laborantin blickt durch Erlenmeyerkolben: ‚Zum Zombie wirst’e nicht wegen ’ner Infektion!‘“

Nehmen wir noch eine Impfung vor, so kurz vor dem vermeintlichen Ende aller Tage, am besten eine große Salbung Jazz. Gelegenheit bietet sich aufs angenehm Ungewöhnlichere mit dem Andromedá Mega Express Orchestra (AMEO) am 18. März in den von Technobässen gut durchmassierten Gemäuern des Berghain.

Vor 14 Jahren gründete Daniel Glatzel noch während des Studiums das Orchester. Seither hält es der Tenorsaxofonist mit seinen Kompositionen zusammen. Ein mittlerweile veritables Œuvre über vier Alben, weltweite Festivalauftritte und Zusammenarbeiten mit den Indie-Ikonen von The Notwist wie auch dem brasilianischen Jazzkomponisten Hermeto Pascoal. Wechselnde Musiker*innen aus zeitweise elf Nationen gleichzeitig spielten bei Andromedá. 18 an der Zahl kommen am Mittwoch. Geprobt wird seit Wochen, neue Stücke sollen präsentiert werden.

„Wir sind mehr eine Band als ein Ensemble“, erklärt Glatzel die Proben- und Auftrittsdynamik seiner Gruppe. „Es gibt Rollen wie beim Theater, eigene Temperamente. Ich versuche die Stücke zuzuschneidern, sodass die Parts dann zu den einzelnen Musiker*innen passen.“ Für das Konzert im Berghain hat er sich mit dem Visual Artist Tim Novikov zusammengetan. Beim Proberaumbesuch in den Weddinger Uferhallen berichten die beiden von ihrer recht neuen künstlerischen Verbindung, „ein bisschen wie John Cage und Merce Cunningham“. Also Komponist und Choreograf in Liebe vereint. So fühlten sich die beiden seit rund einem Jahr.

Glatzel und sein Kollektiv machen freien, orchestralen Jazz, europäisch-weltmusikalisch. Mal sphärisch, mal treibend, mal plaudernd, mal Klangwände aus musikalischen Mosaiken, mal Zitate aus musikhistorischen Tiefen. Erst subtil, dann dramatisch, schließlich schreitet der Klang geradezu im Big-Band-Schritt die Showtreppe herab.

Glatzels Kompositionen sind nachvollziehbar und poppig, aber durchtanzt von Komplexität, teils im Stück variierte Rhythmen. Er legt sie als Partituren an und gibt sie dann auf den Proben zum Improvisieren frei, bis er sie präzise erfasst. Auch Kinder dürften trotz der Komplexität recht schnell Zugang zu den meisten Stücken Glatzels finden. Denn immer wird etwas instrumental erzählt, Fantasien freigesetzt.

Etwa von den Wendungen der Fischschwärme in tropischen Wasserwelten. Und dann wieder eine erwachsene Dramatik wie aus der Filmmusik der 1950er und 60er. Eine Fahrt mit dem Cabrio, Serpentinen Nordwestitaliens hinauf. Ist es der Schuh Ennio Morricones, der da aus dem Wagen steigt?

Die Musik Glatzels transportiert durchaus eine Eleganz, die zu Zeiten mit Cocktails, filterlosen Zigaretten und geformten Frisuren zelebriert wurde. Swimmingpools, aus denen ein Lichtmuster über die Körper nächtlicher Gäste wogten. Da drehen sich die Köpfe: Klopft da ein Specht am nahen Baume? Oder knackt doch Ärgeres durchs Unterholz? „In Light of Turmoil“ wäre solch eine erzählerische Komposition Glatzels, eine sinnbildliche Kamerafahrt von vierzehn Minuten vom letzten AMEO-Album „Vula“.

Synästhet*innen, also Menschen, die die Musik für sich in grafische Muster, Figuren, Gemälde oder gar Geruchseindrücke auflösen wollen und daraus Genuss beziehen, sind bei Andromedá klar im Vorteil. Augen schließen, ab geht die Post.

Im unbestuhlten Berghain aber wird mensch die Klänge auch einfach in Bewegungen übersetzen können. Zu Andromedá tanzen? Warum eigentlich nicht. Für eingefleischte Jazzfestivalkenner*innen womöglich zu wenig intellektuell, für leicht zugängliche Unterhaltungsjazzhörer*innen zu komplex – eigentlich genau richtig für die offene Raumsituation im Palast der elektronischen Musik, mit dem Publikum auf einer Ebene, wach und bewusst.

Diese Musik kündet von der Möglichkeit einer besseren Gegenwart in naher Zukunft. Das ist nicht wenig angesichts des vielfach konstatierten rasenden Stillstandes in vielen Bereichen der Kunstproduktion, auch generell.

Kritik? Sicher auch: Die oft zitathaften Arrangements könnten etwas vom Binge-Watching-Effekt der Netflix-Serien haben. Die Formen der pointierten Kurzgeschichte oder des bretthart eingerichteten Jazz-Stücks lösen sich zuweilen in endlosen Staffeln auf, gleichsam wallenden Romanen oder ornamentalen Assoziationsketten. Das hat bei aller musikalischen Intelligenz auch etwas Feudales an sich, eine Opulenz, die einen durch schiere Menge und absehbare Intensitätswechsel überwältigt und süchtig machen will. Und sich dabei doch betont differenziert geriert.

Gelingt aber! Und vielleicht wird aus solchen Kompositionen tatsächlich einmal der Umriss dessen aufgetaucht sein, was eine neue Epoche musikalisch erfassbar gemacht haben wird. Bitte! Denn die alte ist nicht mehr auszuhalten.

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