berliner szenen
: Einer, der die Wahrheit sagt

An einem Dienstagabend arbeite ich in einer Kneipe an einem Text über den Stellungskrieg in der Ostukraine. Als ich mich gerade in eine Studie zur kulturellen Identität im Osten des Landes vertiefe, nehmen zwei Männer an meinem Nachbartisch Platz. Ich höre „Putin“ und „Krim“ und werde neugierig. Der eine der beiden ist seiner Art zu sprechen nach gebürtiger Deutscher. Der andere, entnehme ich den Gesprächsfetzen, wurde auf der Krim geboren. Als der Deutsche sich verabschiedet hat, lehne ich mich zu dem Krimianer rüber: „Ich recherchiere gerade etwas über die Ostukraine und kam nicht umhin, Ihr Gespräch mitzuhören.“

Er sieht mich groß an. Kurz bereue ich, ihn angesprochen zu haben. Aber er zündet sich eine Zigarette an und fragt lächelnd: „Warum liest du denn über die Ostukraine? Das ganze Land interessiert doch niemanden!“ Ich zünde mir auch eine Zigarette an und erkläre: „Doch. Mich beispielsweise.“ Er winkt ab: „Du wirst es aber nie verstehen. Dafür muss man von dort sein und die Geschichte der letzten tausend Jahre kennen: Das Land ist künstlich gemacht. Es gibt nicht die Ukraine. Die Teile gehören eigentlich zu Polen und Russland.“

Ich frage interessiert: „Dann sehen Sie das mit der Krim nicht als Annexion?“ Er guckt entsetzt: „Natürlich nicht. Wir haben historisch immer zu Russland gehört.“ Ich frage weiter: „Und was ist mit dem Stellungskrieg in Lugansk und Donezk?“ Er zuckt mit den Schultern: „Interne Angelegenheit, die niemanden etwas angeht. Da leben fast nur Russen.“

Ich zeige ihm die Statistik auf meinem Laptop und widerspreche: „Hier steht aber etwas ganz anderes.“ Er schüttelt den Kopf: „Das ist aus Kiew! Weißt du, wie weit entfernt Kiew ist? Ich habe in der Nähe gelebt. Glaub doch nicht irgendwelchen Zahlen. Glaub mir! Ich sage die Wahrheit.“ Eva-Lena Lörzer