Bilder, um die niemand gebeten hat

Die Ausstellung „Das illegale Bild. Fotografie zwischen Bildverbot und Selbstzensur“ wirft im „f3 – freiraum für fotografie“ große Fragen auf, die sie selbst womöglich nicht zu Ende gedacht hat

Freiraum für Persönlichkeitsrechte: Espen Eichhöfers retuschiertes Foto aus seiner Serie „A to B“ Foto: Espen Eichhöfer

Von Tilman Baumgärtel

Im Sommer 2013 machte der Berliner Fotograf Espen Eichhöfer am Bahnhof Zoo ein Foto von einer Frau in einem Kleid mit Schlangenmuster. In der einen Hand eine De­signer-Handtasche, in der anderen Plastiktüten, kam sie über die Kreuzung an der Hardenbergstraße.

Eichhöfer, Mitglied der Fotoagentur Ostkreuz, sollte an einer Ausstellung bei der Fotogalerie C/O Berlin teilnehmen. Er wollte dafür die Gegend um den Bahnhof Zoo dokumentieren, in dessen Nähe sich der Ausstellungsort befindet. „Ich fotografiere Straßenszenen, die diesen Ort des Umsteigens von „A nach B“ charakterisieren sollten“, schrieb er später in einem Gastbeitrag für das Online-Magazin Vice. „Menschen verweilen selten dort, es sei denn sie warten kurz oder sind obdachlos und trinken auf dem Boden sitzend Alkohol.“

Aus den 1.600 Aufnahmen wählte er zwölf aus, darunter auch das von der Frau in dem Kleid mit Schlangenmuster, das im Herbst desselben Jahres in der Ausstellung groß im Format 120 Zentimeter auf 140 Zentimeter gezeigt wurden. Nach der Eröffnung bekam Eichhöfer eine Unterlassungsklage von der Passantin. Die wollte offenbar nicht, dass der zufällige Schnappschuss von ihr gezeigt würde. Das Bild wurde abgehängt.

Die unfreiwillig Porträtierte klagte auf 5.500 Euro Schmerzensgeld. Eichhöfer sah dadurch sein Recht gefährdet, Fotos im öffentlichen Raum zu machen, und so landete das Verfahren vor dem Landgericht Berlin. Der Richter wies die Forderung nach Schmerzensgeld zwar zurück. Er urteilte aber auch, dass die Persönlichkeitsrechte der Klägerin verletzt worden seien und der Fotograf die Gerichtskosten übernehmen müsse. Eichhöfer startete eine Crowdfunding-Kampagne und ging in Berufung, weil er befürchtete, dass es sonst unmöglich werden würde, auf der Straße zu fotografieren.

Letztlich landete der Fall vor dem Bundesverfassungsgericht. Das lehnte das Verfahren zwar ab, schrieb aber in einer ausführlichen Begründung, dass es bei der „Street Photography“ genretypisch sei, dass die Menschen vor der Aufnahme nicht gefragt werden.

Die Ausstellung „Das illegale Bild. Fotografie zwischen Bildverbot und Selbstzensur“ in der selbstorganisierten Fotografengalerie f3 – freiraum für fotografie in Kreuzberg macht das Thema anhand von einigen Werkgruppen anschaulich, Espen Eichhöfer ist einer der Kuratoren.

Gleich am Eingang hängt sein Bild, mit dem sich zuletzt das Bundesverfassungsgericht beschäftigt hat, im Großformat. Die Frau mit dem Schlangenmusterkleid wurde allerdings fein säuberlich herausretuschiert. Von ihr sind nur die Umrisse zu erkennen, ihr Körper ist eine weiße Fläche.

Es ist nicht überraschend, dass eine Ausstellung, die in einer Fotografengalerie gezeigt wird, parteiisch ist. Schon der Titel der Ausstellung signalisiert dies. Denn in Wirklichkeit ist durch die Gerichtsentscheidung weder Straßenfotografie per se als „illegal“ erklärt worden. Noch ist es „Selbstzensur“ oder gar ein „Bilderverbot“ wie in irgendeiner düsteren Diktatur, wenn man keine Bilder von Leuten veröffentlichen kann, die nicht fotografiert werden möchten.

Man hätte die Ausstellung auch „Das unerwünschte Porträt“ nennen können, mit Untertiteln wie „Fotografien, für die nicht um Erlaubnis gebeten wurde“. Oder gar „Bilder, um die niemand gebeten hat und denen man auch nie zugestimmt hätte“. In der Ausstellung wird der Fall Eichhöfers mit Zensur in Verbindung gebracht, indem er neben einer Serie von Jan Dirk van der Burg gezeigt wird, der Zeitungsbilder gesammelt hat, die im Irak von den Zensoren zugeklebt wurde. Diese Gleichstellung schießt weit übers Ziel hinaus.

Aber Fotografen, die die Welt, die sie umgibt, in spontanen Schnappschüssen festhalten möchten, wollen sich das natürlich nicht vom Gericht verbieten lassen. Auch aus zeithistorischen Gründen ist es nicht wünschenswert, dass jedes Bild einer belebten Straße nur dann in Ordnung geht, wenn man die Genehmigung von allen einholt, der im fotografisch richtigen Augenblick zufällig vor der Linse standen. Sonst wären viele der berühmtesten Bilder in der Geschichte der Fotografie nie entstanden. Man denke an Henri Cartier-Bressons Bild von dem Jungen mit den Weinflaschen in der Rue Mouffetard in dem Paris von 1954.

Die Kreuzberger Ausstellung ist klein, aber sie stellt große Fragen. Schon die Bilder aus Eichhöfers Bildserie vom Bahnhof Zoo, von denen einige in der Ausstellung zu sehen sind, geben der Diskussion weiteres Futter. Was ist zum Beispiel mit der Gruppe von Blinden, die in einer tollen Bildkomposition vor dem Fenster eines Cafés stehen, hinter dem eine Frau die Morgenpost liest. Wer blind ist, merkt nicht nur nicht, dass er fotografiert wird und kann sich das darum nicht verbitten. Vor allem kann er aber auch nicht die Bilder sehen, auf denen er gezeigt wird.

So wird die Debatte über Street Photography schnell zu einer Debatte über Macht und soziale Privilegien. Die Frau mit dem Schlangenmusterkleid konnte nur deswegen klagen, weil sie offenbar aus einer sozialen Schicht stammt, in der man überhaupt mitbekommt, dass das eigene Bild in einer Galerie zu sehen ist. Und weil sie sich einen Anwalt leisten konnte. Der abgerissene Mann mit den Glubschaugen oder der türkische Rentner, die auf anderen Bildern Eichhöfers zu sehen sind, werden vielleicht nie erfahren, dass sie in den Augen eines deutschen Fotografen repräsentativ für die Situation rund um den Bahnhof Zoo waren.

Letztlich unterfüttert Eichhöfer sein ganz persönliches Bild von dieser Gegend mit Fotos. Aber stimmt dieses Bild überhaupt? Ist dort wirklich ein reiner Durchgangsort, wo nur Alkis und Obdachlose länger bleiben, wie der Fotograf in Vice behauptete? Ist in dieser Gegend nicht auch der Zoopalast, wo sich die Kinobesucher die Karten für die 3D-Filme im Luxuskino erst einmal leisten können müssen? Oder die Würstchenbude Curry 36, zu der internationale Touristen vom „Lonely Planet“ gelotst werden? Und wenn man nach Leuten sucht, die bequem und länger sitzen – würde man die nicht zum Beispiel im Café beim C/O Berlin finden (wo Eichhöfer sein gerichtsnotorisches Bild zuerst gezeigt hat), wo sie sich eine Ausstellung gegönnt haben und nun einen Espresso schlürfen?

So wird die Debatte über Street Photography schnell zu einer Debatte über Macht und soziale Privilegien

Die Café-Besucher hätten wahrscheinlich sofort protestiert, wenn sie als Exempel für den Menschenschlag um den Bahnhof Zoo abgelichtet worden wären. Und im Zweifelsfall auch einen Anwalt am Start, der solche Darstellungen unterbinden würde. Niemand ist verpflichtet, als Statist für das Weltbild eines Fotografen zur Verfügung zu stehen. Das mag auch der Grund sein, warum die Street Photography sich oft genug auf die Armen und Hilflosen konzentriert hat – die ziehen nicht vor Gericht.

Das Schwelgen im Elend anderer kann man Beat Streuli nicht vorwerfen. Die Passanten in Manhattan, die der Schweizer mit einem starken Teleobjektiv aufgenommen hat, sehen superglamourös aus, wie Filmstars. Aber auch hier stellen sich bei genauerer Betrachtung unangenehme Fragen. Das flanierende Paar, das wohl bis heute nicht weiß, dass es in Kunstausstellungen rund um den Globus gezeigt wird – sind die beiden möglicherweise mit anderen Partnern verheiratet? Wir werden es nie erfahren.

Wenn es um die Inszenierung von Drama geht, ist diese Art von Fotografie jedenfalls ungeschlagen. Die amerikanische Fotografin Merry Alpern nutzte das voyeuristische Glück, aus ihrem Fenster die Vorgänge im Klo eines Sexclubs in Manhattan auf der anderen Straßenseite abbilden zu können. Ein Schwanz hängt aus einem geöffneten Hosenlatz. Vor einem Spitzendessous werden Geldscheine gezählt. Einer schnupft auf dem gefliesten Boden Koks. Ohne Kontext bleiben allerdings auch solche aufreizende Bilder letztlich Augenkino für Spanner.

In einer Zeit, in der die Menschheit damit beschäftigt zu sein scheint, ununterbrochen Selfies von sich selbst in den sozialen Medien zu veröffentlichen, mag das Anliegen der Ausstellung zunächst anachronistisch wirken. Die Bundespolizei erprobt am Berliner Südkreuz „intelligente“ Formen der Videoüberwachung, und nur ein paar Bürgerrechtler regen sich noch darüber auf.

Andererseits hat die zunehmende fotografische Erfassung des öffentlichen Raums auch zu einer erhöhten Wachsamkeit des Publikums gegenüber unerwünschten Fotos geführt. Und der neue Raum, in dem die Bilder aus den Smartphones kursieren, ist streng kontrolliert. Ein 2017 erschienener Bildband mit Fotos, die von Instagram gelöscht wurden, erinnert daran, dass man in den Sozialen Medien allein dem Gutdünken ihrer Betreiber ausgeliefert ist.

Nicht zuletzt macht die Ausstellung unfreiwillig aber auch darauf aufmerksam, dass das aufregendste Bild manchmal die Abwesenheit eines Bildes ist. Wie die wegretuschierte Frau mit dem Schlangenmusterkleid denn nun ausgesehen hat, beschäftigt einen möglicherweise länger als eins der Bilder, die in der Ausstellung zu sehen sind.

„Das illegale Bild. Fotografie zwischen Bildverbot und Selbstzensur“: f3 – freiraum für fotografie, Waldemarstr. 17. Mi.–So. 13–19 Uhr, bis 5. April