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Flut von Impulsen

Klimaapokalypse, Klimasünder, sintflutartiger Regen: Die „Lange Nacht der Weltreligionen“ fragt, wie Religionen Katastrophen erklären – und welche Ansätze sie für wirkungsvolles Handeln anbieten

Von Frauke Hamann

Es regnet seit Wochen. Ein alter Mann lebt im Gebirge und fragt sich: Was, wenn der Berg ins Rutschen kommt und sein Haus, das Dorf, das ganze Tal verschüttet für alle Zeit? Wäre es möglich, dass die bisherige Ordnung kippt? Er beginnt zu sammeln: Wissen, das nicht verloren gehen darf, Daten und Fakten. So will er Ordnung schaffen, gegen das sich ausbreitende Chaos ankämpfen. Wird er dem Verschwinden und Vergessen entkommen?

In der „Langen Nacht der Weltreligionen“ am heutigen Samstagabend zum Abschluss der Lessingtage im Thalia-Theater wird die Schauspielerin Christiane von Poel­nitz aus diesem beunruhigenden Endzeit-Text lesen: „Der Mensch erscheint im Holozän“ von Max Frisch. Gewaltig wird die „Lange Nacht“ beginnen, mit Berichten von lodernden Wäldern in Australien, in Kalifornien, in Brandenburg. Sie fragt: „Nach uns die Sintflut? Religionen und Klimawandel“, um unterschiedliche religiöse Vorstellungen und die Vielheit ihrer Deutungsangebote zu erfassen.

Denn es gibt viele apokalyptischen Geschichten wie diesen Max-Frisch-Text. So beschreiben mythologische Erzählungen antiker Kulturen eine göttlich gesandte Flutkatastrophe. Sie vernichtet die gesamte Menschheit und die Landtiere, nur wenige, besonders gottesfürchtige Personen entkommen.

In der Bibel steht die Geschichte von der Sintflut im 1. Buch Mose, gleich am Anfang: „Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. So spricht der Herr.“ Gott schickt die Flut, weil die Menschen eigensüchtig und gewalttätig lebten. Er lässt alles untergehen. Einzig Noah findet Gnade. In der Arche, einem Schiff, überstehen er und seine Familie die Sintflut und mit ihnen ein Paar von allen Tierarten. In der „Langen Nacht“ wird ihm der Schauspieler Peter ­Maertens seine Stimme leihen.

Das Programm

Naturwissenschaftliche und soziologische Aspekte des Klimawandels diskutieren die Polarforscherin Antje Boetius, die Soziologin und Klimaforscherin Anita Engels und die Biologin Gülcan Nitsch.

Wie wirkungsvolles Handeln angesichts der drohenden Klimakatastrophe aussehen kann, welche Rolle Einzelne oder die Gesellschaft lokal und global spielen können, darüber diskutieren die Religionswissenschaftlerin und Slam-Poetin Kübra Böler, der Thalia-Schauspieler Steffen Siegmund, Samira Chraiet von Green Deen, die Jugenddelegierte der Nordkirche, Helena Funk, und Annika Rittmann von Fridays for Future.

Unterschiedliche religiöse Perspektiven eröffnen Videoeinspielungen: Landesrabbiner Shlomo Bistritzky (Jüdische Gemeinde in Hamburg) äußert sich ebenso wie Bischöfin Kirsten Fehrs (Nordkirche), Erzbischof Stefan Heße (Erzbistum Hamburg), Landesrabbiner Dr. Moshe Navon (Liberale Jüdische Gemeinde Hamburg) sowie Lehrende der Akademie der Weltreligionen.

Die Apokalypse wirkt als Dringlichkeits-Treiber. Wenn nur wenig Zeit für die Rettung der Welt zu bleiben scheint, wird es schwer, im Strudel der Übersteigerung und Beschleunigung die Zukunft überhaupt zu denken. Dabei macht der biblische Bericht von der Flut zwar Angst, doch schafft er auch Hoffnung, denn nach der Sintflut gibt es die Chance auf einen Neubeginn. Die fatalistische Aussicht auf den Untergang verwandelt sich in die Möglichkeit der Zuversicht. Entsprechend entfaltet sich der Spannungsbogen dieser „Langen Nacht“: Der Philosoph Byung-Chul Han stimmt in seinem Vortrag ein „Lob der Erde“ an. Beglückende Naturerfahrungen sieht er als Gegenentwurf zum kapitalistischen Zugriff des Verfügens, zur digital vermessenen Welt. Die Natur ist gefährdet – können die Menschen ihre Hüter sein?

Dramaturgin Dorothea Grießbach von der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg und Matthias Günther vom Thalia-Theater haben die „Lange Nacht der Weltreligionen“ der diesjährigen Lessingtage konzipiert. Sie verbinden Sintflut-Erzählungen unterschiedlicher Glaubenslehren mit religiösen Diskursen und wissenschaftlichen Debatten, sodass Veränderungsperspektiven deutlich werden.

Und natürlich gibt es auch Gesänge auf die Natur. Diese „Lange Nacht der Weltreligionen“ hält also eine Flut von Impulsen bereit – mythologische, religiöse und literarische Texte entfalten ihre Kraft beim Beschreiben der gegenwärtigen Lage, Erkenntnisse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen informieren über den aktuellen Forschungsstand, zudem wird die Deutungsvielfalt religiöser Gemeinschaften sichtbar. Dorothea Grießbach und Matthias Günther sind sich einig: „Mit unserem Programm wollen wir die Verantwortlichkeit jeder und jedes Einzelnen verdeutlichen und zum Handeln einladen, damit wir eben nicht sagen: Nach uns die Sintflut!“

„Lange Nacht der Weltreligionen“: Sa, 8. 2., 19 Uhr, Thalia-Theater; ab 18.30 Uhr lesen im Mittelrangfoyer Schüler*innen Texte zu Bildern der „Tropic Ice“-Austellung

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