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Archiv-Artikel

Die Seele der Dinge suchen

PORTRÄT Die Theaterleiterin Silvia Brendenal erhält einen französischen Orden. Den hat sie verdient mit ihrem Theater der Dinge. Denn in der Schaubude lässt sie mit Puppen und Objekten neue Gedanken wachsen

Nach der Wende wurden die Puppentheater der DDR als Erstes abgewickelt

VON ESTHER SLEVOGT

Die kleine Erbse zum Beispiel. Fünfzig Minuten lang hat man ihr bei ihrem Erbsenleben zugeschaut. Am Ende ist sie in die Gefangenschaft einer Dose geraten, und brutal fährt dort ein Pürierstab hinein.

Im Foyer des berühmten Berliner Figurentheaters „Schaubude“ an der Greifswalder Straße sitzt Silvia Brendenal an einem Kaffeehaustisch und erzählt von diesem Stück der belgischen Compagnie Gare Centrale, „Petit Pois – Kleine Erbse“, das den Zuschauern eine tragikomische Miniaturwelt eröffnet, sie mit der Hauptfigur lachen und leiden lässt. Und noch während Silvia Brendenal vom Tod der Erbse am Schluss erzählt, spürt man den Schock über diesen plötzlichen Gewaltausbruch der sogenannten Zivilisation dem zierlichen Gemüse gegenüber. Ein Schock, den das Theater der belgischen Künstlerin Agnès Limbos mit ihren beseelten Objekten vermittelt hat.

Veränderte Beziehung

Für Silvia Brendenal erlebt das Figuren- und Objekttheater – „das Theater der Dinge“, wie sie es nennt, gerade einen Relevanzschub. Denn man kann beobachten, sagt sie, dass das Verhältnis des Menschen zur Dingwelt im Wandel begriffen ist. Dafür ist aus ihrer Sicht besonders die Verflüssigung des Physischen durch Digitalisierung und Virtualisierung verantwortlich: „Man kann aber sagen, auch das gewachsene Bewusstsein von der Beschränktheit unserer Ressourcen, der Einsicht in die Notwendigkeit von Nachhaltigkeit und Schutz von Mensch und Natur, hat unsere Beziehung zur Welt der Dinge grundsätzlich verändert.“

So sind die Menschen offener für das Physische und damit auch Vergängliche aller Erscheinungen geworden, die den essenziellen Kern des Figurentheaters bilden. Paradigmatisch für die Kunstform findet Silvia Brendenal, dass der Spieler im Figurentheater als Akteur stets hinter das Objekt zurücktreten muss. Dass im Puppentheater der Mensch, der sonst auf dem Theater immer im Zentrum steht, mit den anderen Phänomenen plötzlich auf einer Stufe steht. So werden die immer noch nach dem uralten ptolomäischen Modell sortierten Hierarchien, dem zufolge die Welt das Zentrum des Universums ist und der Mensch seine Krönung, plötzlich umgeworfen.

Seit 1997 leitet Silvia Brendenal die „Schaubude“, und hier ist sie am Anfang ihrer Laufbahn schon einmal engagiert gewesen. Zwischendurch hat sie nicht nur Theater gemacht, sondern ist viele Jahre auch Redakteurin der Zeitschrift Theater der Zeit gewesen – mit dem Schwerpunkt Figurentheater, versteht sich. Dieser Kunst hat ihr Interesse gegolten, seit sie in den 1970er Jahren an der (damals noch Ostberliner) Humboldt-Universität Theaterwissenschaft studierte. „Hier will mir niemand die Welt erklären, sondern mir ein eigenes szenisches Universum eröffnen, das sich radikal zu seinem Gemachtsein bekennt.“

Antiideologischer Gestus

Der uraufklärerische und antiideologische Gestus dieser Kunstform lag ihr näher als die moralische Anstalt Sprechtheater. Denn das Figurentheater begegnet seinen Zuschauern auf Augenhöhe, will ihn weder paternalistisch belehren noch bevormunden. „Es ist ja der Traum aller Kunst“, sagt Brendenal, „unbelebtes Material zu beleben und ihm eine Seele zu geben.“

Das Figurentheater ist für sie die Liaison aller Künste schlechthin, denn hier finden bildende und darstellende Kunst, Musik und Architektur in geradezu idealer Weise zueinander. Selbst hat Silvia Brendenal noch nie eine Puppe in der Hand gehabt, sondern sie versteht sich eher als Theaterermöglicherin.

In der DDR war das Puppentheater eine gleichberechtigte Theaterform, und es gab siebzehn staatlich subventionierte Ensembles und Bühnen. Nach der Wende waren es die Puppentheater, die als Erstes abgewickelt wurden. Im Westen existierte kaum ein Bewusstsein für diese hochabstrakte Theaterform. Auch das Berliner Puppentheater an der Greifswalder Straße wäre fast geschlossen worden, das bis dahin ein Stadttheater mit etwa siebzig Mitarbeitern war. Es wurde gerettet, ein bisschen jedenfalls, und auf Projektbasis zur freien Spielstätte von Berlins Figurentheaterszene zur heutigen „Schaubude“ umfunktioniert.

Für das Vergängliche aller Erscheinungen sind die Menschen offener geworden

Damals, Anfang der 1990er Jahre, war Silvia Brendenal gerade Direktorin des Deutschen Forums für Figurentheater (Fidena) geworden, das seinen Sitz in Bochum hat. Gleichzeitig wurde sie auch künstlerische Leiterin des Internationalen Figurentheaterfestivals in Bochum. In einer Zeit, als aus dem Westen die sprichwörtlich gewordenen Besserwessis massenhaft gen Osten strömten, ging die Figurentheaterspezialistin aus dem Osten in den Westen. Kam sie in ein Figurentheaterentwicklungsland?

So will Silvia Brendenal das nicht ausgedrückt wissen. Schon aus Respekt vor so singulären westdeutschen Künstlern wie Frank Soehnle nicht. Auch hat sie selbst sich immer an der Arroganz der ostdeutschen Figurentheaterszene den westdeutschen Kollegen gegenüber gestört. Vor allem aber haben ihr die Bochumer Jahre den Blick in die vitale französische und belgische Objekttheaterszene eröffnet. Die Puppe, das sei auch im DDR-Puppentheater stets nur der verkleinerte Mensch gewesen.

In den Bochumer Jahren erweiterte sich für Silvia Brendenal das Spektrum auf die belebte Materie als handelndes Personal für das Theater. Seitdem hat sie immer wieder frankophone Künstler und osteuropäische Figurenspieler zusammengebracht und die Szenen der Länder zu gegenseitiger Befruchtung animiert. Für dieses Engagement hat der französische Kulturminister Frédéric Mitterand ihr nun einen der höchsten Orden verliehen, den die französische Kulturpolitik zu vergeben hat, und sie zum „Chevalier de l’ordre des Arts et des Lettres“ ernannt. Das wird vielleicht auch hierzulande einer Kunstform zu verstärkter Aufmerksamkeit verhelfen, die von vielen immer noch als kunsthandwerkliches Kinder(geburtstags)vergnügen missverstanden wird.

Der französische Orden wird Silvia Brendenal am 4. Oktober in ihrem Theater übergeben. Zuvor wird sie den versammelten Honorationen aus Kultur und Politik ein kleines Stück von und mit der französischen Künstlerin Lili Destastres für Anderthalbjährige zeigen (und damit wohl auch etwas Demut lehren wollen): „Plein de (petits) rien – Voll kleiner Nichtse“ heißt es programmatisch. Die kleinen Nichtse, aus denen doch das Leben besteht.

■ Die Schaubude beginnt am 11. September wieder zu spielen, mit dem sizilianischen Märchen „Mutige Prinzessin Glücklos“, eine Produktion vom Theater Ozelot

■ Am 28. September beginnt die reguläre Spielzeit mit dem internationalen Festival „theater 2+“, für Zuschauer ab 2 Jahren