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Leben unter der Abrissbirne

Schein oder Sein oder Nicht-Sein? Jette Steckel geht es mit ihrer „Hamlet“-Inszenierung im Thalia-Theater ums große Ganze. Heraus kommt ein anregendes Stück Schauspiel im Gesellschaftsspiel im Theaterspiel

Von Jens Fischer

Hereinspaziert, willkommen zum Amtsantritt des neuen Königs Claudius. Gefeiert wird im Thalia-Theater. Die wohlfeil herausgeputzten Gäste genießen kostenlos gereichten Sekt. Mitten durch die Menschenknäuel drängeln sich mit Rosencrantz (Julian Greis) und Guildenstern (Björn Meyer) zwei Gecken der sozialen Medien und übertragen plappermäulig ihr Dabeisein per Handykamera in die Welt.

Auf Bildschirmen und dem Eisernen Vorhang ist ihr Live-Stream zu sehen, Smartphone-Nutzer können ihn kommentieren oder mit Herzchenregen überschütten. Schon ziehen die alte und neue Königin Gertrud – Barbara Nüsse todtraurig schweigend in einem rot lackierten Abendkleid – und ihr neuer Gemahl Claudius ein, der in seiner Ansprache gleich den Populisten mimt und behauptet, das Volk wieder zum Herrscher der Nation machen zu wollen.

Aber mit dem Abfeiern des Status ist es dann mit dem Auftritt Hamlets vorbei: Der Zweifler, der Wahnsinnige, der Rachsüchtige, der Einsame – der Schauspieler? Mirco Kreibich wird in der knapp vierstündigen Inszenierung von Jette Steckel all das sein. Soll bei seinem ersten Auftritt aber „so umwölkt“ wirken, wie es in der pointierten Übersetzung des Regisseurin-Vaters Frank-Patrick Steckel heißt. Also versteckt Hamlet seinen Kopf in einem schwarzen Helm. Fremd unter Fremden.

Doch lädt er zu seiner Festvorführung in den Theatersaal. Die Hamlet-Show wird bald kenntlich als Raserei gegen die Verlogenheit des rücksichtslos seinen Machttrieb auslebenden Königs – in der zynischen Politprofi-Darstellung von Bernd Grawert geradezu ein Prototyp dieser Lebenseinstellung. Es ist etwas faul nicht nur im Staate Dänemark. Mit seinem Schauspiel im Gesellschaftsspiel im Theaterspiel will Hamlet das allen Zuschauern beweisen. Und dabei das Theater als Medium zeitgeistlicher Debatten feiern.

Zur Verdeutlichung des Grundimpulses der Inszenierung setzt Hamlet erst mal eine Spitzhacke ein – beginnt den Boden der Bühne zu zertrümmern, die die Welt bedeutet, gräbt sich ein Grab und intoniert dabei Heiner Müllers postmoralisches Endspiel „Hamletmaschine“. Wie dort beschrieben, will er sich nicht im Schlachthaus der Menschheitsgeschichte einrichten. Obwohl ihm die Logik von Töten und Getötet-Werden, von täglicher Gewalt, Unterdrückung, Ausgeliefertsein und Unterwerfung unausweichlich scheint.

Aus dem Bühnenhimmel schwebt derweil ein riesiger schwarzer Ballon herab, rollt überdimensional bedrohlich hin und her – als eine Art Abrissbirne des Lebens, Ball des Todes, verkohlte Erde oder schwarze Sonne Melancholie (Bühne: Florian Lösche).

Ja, Steckel geht es ums große Ganze, Schein oder Sein oder Nicht-Sein. In historisierendem Hamlet-Design zeigt Kreibich das furios zwiegespalten: ist so todessehnsüchtig wie todesängstlich, von Selbstzweifeln und Perspektivlosigkeit gequält, mit Selbstbehauptungen, Hirn- und Vatergespinsten trotzend und dabei stets existenzphilosophisch angekränkelt.

Aber so gar nicht zaudernd, meist ein Tatmensch. Immer wieder brennen ihm auch in Zorniger-junger-Mann-Manier die Sicherungen durch. Nachdem er seine Ophelia (Marie Jung) abserviert hat – „Gehe ins Kloster“ – fällt sie über ihn, dann er über sie her – mit der Energie eines Vergewaltigers. Weswegen sie in ihrer Wahnsinnsszene noch schnell der #metoo-Bewegung beitritt, indem sie ein verrückt kunterbuntes Kleid trägt, auf dem groß „NO“ steht.

Auch ist Hamlet Spiegel und Abbild der verdorbenen Welt, die er bekämpft – muss also an sich selbst die gehassten Hybris-Symptome feststellen, etwa wenn er als Regiediktator alter Schule einem Mimen die Rollengestaltung aufzwingt. Es sind diese üppig inszenierten Nebenschauplätze wie auch die unverständlich implantierten Song-Darbietungen von Dominique Dillon de Byington, die der Aufführung die Stringenz nehmen und immer wieder den Atem für die Auseinandersetzung des Prinzips Hamlet gegen das Prinzip Claudius.

Diabolisch funkelnd allerdings, wie Claudius in feister Zwiesprache mit dem Publikum den Mord an Hamlets Vater gesteht. Er wollte halt dessen Land, Krone und Frau. Feiert sich nun als Gott seiner selbst und ruft höhnisch gen Himmel: „Vergib uns unsere Morde!“ Die Antwort: Schweigen. Für Claudius ein Beweis für die Bedeutungslosigkeit ethischer Werte und die Nicht-Existenz einer strafenden Instanz.

Das finale Abmurksen ist schnell erledigt: Hamlet trippelt selbstzerstörerisch unbewaffnet mit verzückter Balletttänzerei in sein Duell mit der rohen Gewalt des bewaffneten Laertes, bis beide in den Modus eines japanischen Selbstmordrituals wechseln. Schmerzhaft grinsend versinkt der tödlich getroffene Hamlet im verlöschenden Bühnenlicht. Während schon die neuen Machtspiele starten. Nicht um die Wiederherstellung legitimer Herrschaft geht es, sondern um die unheilbringende Etablierung des Weiter-So.

Schauspielerisch ist der Abend eine Pracht, optisch eine Wucht, inhaltlich etwas verstolpert. Aber anregungsreich für eine Radikalisierung des Denkens und Handelns auf den politischen und ökonomischen Bühnen der Welt.

„Hamlet“: Sa, 1. 2., 18 Uhr, Thalia-Theater; nächste Aufführungen: 7. 2., 16. 2., 24. 2., 27. 2.

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