: Schlafgeschwindigkeit 130 km / h
KIDNAPPING In „Nachtlärm“ erzählt Christoph Schaub von den geplagten Eltern eines Schreikindes, das ihnen nachts in einer Raststätte mit ihrem Auto gestohlen wird. Martin Suter schrieb das Drehbuch
VON WILFRIED HIPPEN
Da weiß einer genau wovon er erzählt. In den ersten Minuten von „Nachtlärm“ wird so einfühlsam und wissend das Leid eines Elternpaares in Szene gesetzt, dessen extrem unruhiges Baby sie ständig in Alarmbereitschaft hält, dass man die autobiografische Quelle des Autoren Martin Suter dabei laut plätschern hören kann. Nachts ist für die beiden an Schlaf nicht zu denken und sie sind inzwischen so müde und genervt, dass sie die Aggressionen gegeneinander richten. Alexandra Maria Lara und Sebastian Blomberg geben hier glaubwürdig und völlig uneitel Szenen einer Ehe zum besten, die vor allem den Grad der Überforderung und Erschöpfung der beiden deutlich machen. Als einziges Mittel um das Kind ruhigzustellen hat sich eine nächtliche Autofahrt bewährt, und so fährt die kleine Familie spätnachts über die Autobahn. „Die Schlafgeschwindigkeit ist 130“ weiß der Vater aus Erfahrung und nachdem so endlich Ruhe herrscht, kehren die beiden in einer Raststätte ein. Nur ein Moment sind Auto und Kind unbeobachtet und schon fahren zwei Autodiebe mit ihnen davon.
Der Witz besteht natürlich darin, dass nun dieses Paar sich mit dem Schreikind abplagen muss. Dabei wird schnell klar, dass Georg Friedrich und Carol Schuler zwar zwei hedonistische Outlaws spielen, aber längst nicht so abgebrüht sind wie sie sich geben. Und so muss man nie wirklich Angst um das Kind haben. Stattdessen wechselt bald der kiffende Rebell die Windeln des Kindes und danach sehen wir in fast identischen Einstellungen (durch die Vorderscheibe des Autos) dieses Paar ganz ähnlich streiten wie das erste, das sich seinerseits auf eine abenteuerliche Suche nach ihrem Kind macht. Diese Spiegelung ist die reizvolle Grundidee von „Nachtlärm“, doch leider reicht sie nicht für 94 Filmminuten.
Deshalb hat Drehbuchautor Martin Suter für den zweiten Akt auf eine Reihe von Klischees zurückgegriffen, die von der Kerngeschichte ablenken und so offensichtlich dramaturgische Krücken sind, dass die bis dahin stimmig gezählte Geschichte bald aus der nächtlichen Bahn läuft. Nachdem Auto und Kind vor ihren Augen wegfahren, klauen die Eltern ihrerseits einen Wagen, um die Verfolgung aufzunehmen. Dieser gehört aber einem Bankräuber und so fahren die nichtsahnenden Eltern mit dessen Waffe und Beute fort. So werden die Verfolger bald von ihm auf einem Motorrad verfolgt und es kommt zu einer ganzen Reihe von Szenen, in denen sich die inzwischen drei Fahrzeuge entweder knapp verfehlen oder nach Jagden wieder verlieren. Später tritt auch noch ein vergewaltigender Fernfahrer auf, und spätestens dann ist die nächtliche Suche zu einer Geisterbahnfahrt geworden, bei der Suter und Regisseur Christoph Schaub zwar tief in die Trickkiste des Thrillergenres greifen, dann aber doch nicht makaber und gewitzt genug sind, um auf dieser Ebene zu überzeugen.
Die beiden Schweizer Martin Suter und Christoph Schaub hatten 2009 einen großen Erfolg mit der Komödie über das Älterwerden „Giulias Verschwinden“. Beim Filmfest in Locarno bekamen sie dafür den Publikumspreis und vor drei Wochen stellten sie dort auch ihre neue Zusammenarbeit vor. Die Reaktion von Publikum und Presse war aber längst nicht so enthusiastisch wie beim ersten Mal, denn als typischer zweiter Versuch wirkt „Nachtlärm“ zu bemüht und konstruiert. Am Unterhaltsamsten ist noch der Österreicher Georg Friedrich, der sich in Filmen von Michael Haneke und Ulrich Seidl, einem Brenner-Krimi mit Josef Hader und „Nordwand“ von Philip Stölzl zu einem der besten deutschsprachigen Charakterdarsteller entwickelt hat. Die Szenen mit ihm haben eine ganz andere Energie als der Rest des Films, denn er spielt sehr komisch mit dem Schmäh eines kleinen Großmauls und macht so mehr aus der Rolle als im Drehbuch angelegt ist.
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