: Manchmal schien Berlin ein Dorf
Rückkehr nach Ostberlin als Westbesucher: Ein Fotoband von Udo Hesse birgt Erinnerungen an eine graue Stadt
Von Katrin Bettina Müller
Für den 1. Mai 1983 hatte sich der junge Fotograf Udo Hesse, der 1976 nach Berlin (West) gekommen war, ein Tagesvisum für Ostberlin besorgt. Er fotografierte am Alexanderplatz zwei Jungs unter dem Regenschirm ihrer Mutter, deren neugierige Blicke auf zwei Uniformierte diese stolz lächeln ließ. Er nahm Bestarbeiter mit ihren Schildern auf, lässige Jugendliche, eine Gruppe Volkspolizei in der Karl-Marx-Allee. Dort schließlich marschierten Betriebskampfgruppen, uniformiert und ordengeschmückt, in breiten Reihen knapp an seinem Objektiv vorbei. Mit diesen Bildern, die von verhaltener Volksfeststimmung langsam zur Demonstration militärischer Verteidigungsbereitschaft wechseln, beginnt sein gut orchestriertes Buch „Tagesvisum Ost-Berlin“.
1983 war ich nach Berlin (West) gezogen und hatte Udo Hesse in einem ganz anderen Kontext kennengelernt. Er war der Fotograf der jungen tanzfabrik, eng verbunden mit den TänzerInnen und ChoreografInnen und ihrer Aufbruchstimmung. Von Berlin Kreuzberg aus starteten sie damals gerade zu überregionaler Bekanntheit durch, nicht zuletzt seine Fotos trugen dazu bei.
Seine Ausflüge nach Ostberlin aber waren ein anderes Kapitel. Im März 1982 war er sogar einmal verhaftet worden, weil er, was in der DDR verboten war, die Mauer fotografiert hatte. Genauer gesagt, von Osten aus die neugierig in den Osten schauenden Besucher auf einer Aussichtsplattform in Westberlin. Seine Filme wurden ihm abgenommen, ein Verhör folgte, wie er in einem Text erzählt. Mit einem Auszug aus seiner Stasi-Akte dokumentiert er, dass sogar ein Versuch gestartet wurde, ihn als Mitarbeiter zu gewinnen, der interessante Bauwerke im Westen für die DDR fotografiert. Seinen Straßenszenen aus Ostberlin wurde eine „einseitige Grundhaltung in politischer Hinsicht“ attestiert.
Dieses Dokument ist erst am Ende des Fotobuchs zu lesen und belegt, dass die meisten der vorher betrachteten Bilder doch auch unter einer gewissen Spannung aufgenommen wurden. Selbst die maroden Fassaden im Prenzlauer Berg abzulichten, mit älteren Frauen im Gespräch an der Straßenecke oder einem alten Mann mit zwei Gehstöcken, auf den ein Kind im Spiel ein Gewehr richtet, konnte schon als „tendenziös“ Anstoß erregen. Udo Hesse reiste trotzdem mit Tagesvisum und Kameras immer mal wieder nach Ostberlin.
Einige lachen ihn an. Die langgelockten Jugendlichen, die am Koppenplatz in Mitte auf Parkbänken sitzen und Karten spielen, so fröhlich und gesittet, wie selten Jungs sich ins Bild setzen lassen. Ein kleiner Junge mit Geigenkoffer. Ein wenig verunsichert schauen zwei Jungs, die auf einer Mauer an der Spitze der Museumsinsel sitzen und eine Fischreuse ins Wasser der Spree halten. Als wäre Berlin ein Dorf.
Berlin ist in Hesses Bildern auch oft ein von erstaunlicher Leere durchzogener Ort. Parks und Plätze vor den Riegeln neuer Plattenbauten haben nichts Anheimelndes. Die Identität der Stadt ist hier irgendwo verlorengegangen. Und wo sie sichtbar wird, da wirkt sie alt geworden und vergessen, wie in einer vernachlässigten Stadt.
Udo Hesse: „Tagesvisum Ost-Berlin“. 104 Seiten, 2019 Hartmann Books Stuttgart, 29 Euro
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