: Von Herzen und Nieren
TABUS Steak und Filet haben gewonnen, die Innereien wurden aus den Küchen verstoßen. Was sagt das über unsere Esskultur? Und wo ist geblieben, was einst als köstlich galt? Eine Deutschlandreise
■ Die Tabubrecher: Ambitionierte Köche wollen geschmähte Fleischteile wieder etablieren. Gerichte wie Tortilla von Kalbskopf und Steinchampignons oder zu Kroketten geadelte Champagner-Kutteln mit Zander sollen die Vorherrschaft von Filet und Steak brechen.
■ Die Teile: Früher kam viel mehr in die Küche – Herz, Lunge, Milz, Leber, Nieren, Magen (Kutteln, Kaldauen, Fleck), aber auch Zwerchfell (Saumfleisch), Maulfleisch, Zunge oder Schwanz.
■ Die Südschiene: In Frankreich oder Italien wird öfter mit Innereien gekocht. In Süddeutschland werden etwa Saumagen (Pfalz) oder Leberle mit Brägele (Südbaden) geschätzt.
■ Das Gedicht: Ein Mensch isst gerne Kuttelfleck / Ein andrer graust sich – vor dem Dreck: / Die ganze Welt, das ist ihr Witz, / Ist Frage nur des Appetits. (Eugen Roth)
VON RAINER SCHÄFER
Einen Schweinskopf oder Schweinsfüße? Das müsse er in seiner Fleischerei gar nicht in die Schaufenster legen, sagt Otto Meinert. Das wäre geschäftsschädigend. In Süddeutschland lockt man damit noch Kundschaft an, in Blankenese vertreibt man sie so. Blankenese ist einer der Hamburger Stadtteile, der sich für feiner hält als andere. Hier ist es für Fleischer wie Otto Meinert einfach, exquisite und teure Ware zu verkaufen. Filets, Steaks, Keulen, Koteletts. Und der Rest?
Nehmen wir das Rind: Es besteht aus über 30 essbaren Fleischteilen. Aber die wenigsten davon werden zum Verkauf angeboten. Weil sie nicht nachgefragt werden. Oder sogar Ekel auslösen. „Ihr habt die Bibel nicht richtig gelesen“, scherzt Meinert an Ostern gerne mit seiner Kundschaft. „Das Osterlamm besteht nicht nur aus Keule.“ Es nützt nichts, auf dem Nacken oder dem Bauch der Lämmer bleibt er sitzen, dabei sind es hochwertige Fleischstücke. Den marmorierten Lammnacken verwertet er im Irish Stew, das er als Convenience-Produkt anbietet: Essen für Schnellkocher. Aufwärmen, fertig.
Meinert, Jahrgang 1952, ist stellvertretender Obermeister der Hamburger Fleischerinnung, er sitzt auch im Vorstand des Deutschen Fleischerverbandes. Er kennt die Konjunktur bestimmter Fleischteile und ist damit eine gute erste Adresse, wenn man herausfinden will, warum in Deutschland bestimmte Teile von Tieren tabu sind und ob dieses Tabu ein endgültiges ist.
Fleischkauf, da hängt Meinert keinen Illusionen mehr nach, ist heute Schnell-Shopping, meist im Supermarkt. „Viele treffen die Kaufentscheidung vor der Kühltruhe. Da gibt es beispielsweise keine Innereien mehr.“ Auch in seiner Fleischerei sind Innereien Ladenhüter. Verlangt werden sie selten. Wenn, dann von älteren Kunden.
Meinert schlachtet keine Tiere mehr, seit er nur noch wenige Stücke davon verkaufen kann. Er lässt schlachten, im Hamburger Stadtteil Stellingen, wo er die Tierhälften abholt. Aber auch in Blankenese wird das Messer noch blutig, wenn er die begehrten Filetstücke auslöst. Blut aber wollen die Kunden heute nicht mehr sehen. Wenn Meinert in den Verkaufsraum geht, trägt er keine blutige Schürze mehr. Zum weißen Hemd hat er eine blaue Krawatte mit gelben Blumen und einen senffarbenen Pullover gewählt. Wäre da nicht das rote, ärmellose Jäckchen mit dem f, das für das Fleischerhandwerk steht, man könnte ihn auch für einen Fahrlehrer halten.
Nur wenn Otto Meinert dreimal die Woche um vier Uhr morgens auf den Hamburger Fleischgroßmarkt fährt, dann zieht er die weißen Gummistiefel an wie die Schlachter, die früher in einer Nacht Hunderte von Tieren von den Füßen geholt haben. „Aber der Fleischgroßmarkt ist nicht mehr blutig“, sagt Meinert. Hier wird seit fünfzehn Jahren nicht mehr geschlachtet, hier werden Tierhälften angeliefert und portioniert. Auf dem Fleischgroßmarkt kennt Meinert alle: Otto hier, Otto da. Manchmal begleitet ihn sein Sohn, „der Lütte“, acht Jahre alt. Dann essen sie gemeinsam zum Frühstück ein Stück rohe Leber. „Sehr fein“, wie die beiden Meinerts finden. Aber selbst die hart gesottenen Fleischer fangen dann zu meckern an. „Otto, wie kannst du dem Kind bloß rohe Leber geben?“ Daran merkt Meinert, dass der Schlachthof und seine Menschen sich verändert haben. Vor allem ihre Essgewohnheiten.
Wortkarge Kopfpuhler in Hamburg
Am Eingang des Fleischgroßmarktes zieht ein kleiner Tross von Andersessern vorbei. Die meisten davon sind afrikanische Frauen, in weite bunte Gewänder gehüllt. An den wenigen Stationen, an denen noch Innereien und Schlachtabfälle zu bekommen sind, trifft man auch sie. Sie kaufen Fleischteile, die sonst den Tieren vorgeworfen werden: Nieren, Leber, Pansen, Lunge, Herz oder Schwänze. In den afrikanischen Kochkulturen gibt es für jedes dieser Tierteile Rezepte, die eine genussvolle Zubereitung garantieren. Aus Lammköpfen wird Suppe gekocht. Sogar die Speiseröhre der Rinder, der Schlund, wird verwertet. Wie man das macht? Da ziehen auch deutsche Schlachter und Fleischer fragend die Schultern hoch.
„Kopfpuhler“ nennt man auf dem Großmarkt die Fleischer, die genusstaugliche Teile aus den Tierköpfen „puhlen“, Backen, Zungen und die Kinnlade mit dem Maulfleisch. Der Rest des Kopfes wird entsorgt, die Sicherheitsvorschriften sind nach Skandalen in der Massentierhaltung wie der Rinderseuche BSE verschärft worden. Die als Risikomaterial eingestuften Tierteile müssen kostenpflichtig in der Tierkörperbeseitigungsanlage vernichtet werden: Das Darmpaket, der Kopf, die Milz, das Rückenmark, die Füße mit den Klauen. In einigen Anlagen werden Schlachtreste in Biogas umgewandelt. Aus Knochen werden Fette und Gelatine gewonnen, die unter anderen den Gummibärchen Halt verleihen.
Die „Kopfpuhler“ sind eine aussterbende Spezies. Der einzige verbliebene Betrieb ist Lippeck & Richter. Früher gab es sechzehn davon. „Wir puhlen jeden Tag“, heißt es zur Begrüßung, sonst wird hier lieber mit dem Messer hantiert als geredet. Innereien und Tierköpfe werden veredelt, also verkaufsfertig aufbereitet, für die Gastronomie und Privatkunden. In einer Wanne liegen Rinderlebern, Lappen mit einem halben Meter Umfang, wie große dunkelrote Kissen mit Glanzbezug.
Wer bei Lippeck & Richter kauft, hat einen anderen Blick auf das Tier als die meisten Fleischesser. Hier wird ausgestellt, was Tiere sonst in ihrem Inneren verbergen. Neben Innereien sind Zungen und Rinder- und Kalbsbacken im Angebot, die auf einigen Speisekarten der gehobenen Gastronomie angeboten werden. Aber jede Woche geht ein Transport mit den nicht benötigten Fleischteilen nach Paris-Rungis auf den Großmarkt. Rinderzungen sind darunter und Zwerchfelle, die in Hamburg Saumfleisch heißen. Das ist nur ein Beispiel für den globalen Verschiebeverkehr, mit dem Tierteile durch die Kontinente geschleust werden. Von Hühnern werden in Deutschland fast nur noch die Brüste und Schenkel gegessen, die Füße werden nach Südostasien verkauft, die Innereien nach Russland. Die anderen Geflügelteile nach Afrika, wo sie die örtlichen Kleinbauern ruinieren, die für ihre Tiere keine rentablen Preise mehr erzielen können.
Ein akademischer Schlachter
Die Anatomie des Rindes und des Lamms kennt Christian Korb besser als die des Menschen. Er leitet mit seinem Bruder Andreas den Schlachtbetrieb Heinrich Fricke in Hamburg-Stellingen. Sie sind die Ururenkel des Gründers, der 1892 zum ersten Mal schlachten ließ. Jede Woche werden hier 60 bis 120 Rinder und Lämmer zerlegt, darunter sind auch Lohnschlachtungen für Fleischer wie Otto Meinert aus Blankenese. Der mittelständische Schlachtbetrieb ist der einzig verbliebene in Hamburg mit EU-Zulassung, der sich auf Lamm und Rind spezialisiert hat. Das Schlachtgeschäft hat sich verlagert in gigantische Zerlegebetriebe, in denen für die Supermarktketten Tiere portioniert werden. In diesen Zerlegefabriken ist Schlachten zu einer automatisierten Fließbandarbeit geworden, die nicht viel Zeit und Aufwand kosten darf. „Wir lassen das Fleisch am Knochen reifen, um gleich bleibend gute Qualität zu gewährleisten. Dafür haben die großen Zerlegebetriebe gar keine Kapazitäten. Fleisch ist absolute Vertrauenssache“, sagt der Akademiker, der nicht ins gängige Bild des groben Schlachters passt. Der Fleischermeister ist auch Diplomingenieur der Fleischtechnologie. „Es geht mir nicht um Schlachten, Blut und Tod, sondern um die Gewinnung von guten Lebensmitteln.“
Nach Schlachttagen trifft man in Stellingen vor allem Spitzenköche und Hundehalter, angezogen von frischen Innereien. „Davon gehen 75 Prozent in die Tiernahrung, nur 25 Prozent verkaufen wir als Lebensmittel“, sagt Korb. „Innereien haben einen Imageschaden. Auch wegen der mangelnden Lebensmittelkenntnisse.“ Ein Jammer, sagt Korb, es ist hochwertige Ware, weshalb er den Begriff Abfall meidet. „Schlachtnebenprodukte“ nennt er sie, Lunge, Leber, Pansen, Herz und Niere. Auch Hoden und Kuheuter gehören dazu, die in der Hauptstadt als „Berliner Schnitzel“ bekannt wurden. Korb zählt sie zu den vergessenen Delikatessen unserer Esskultur, wie Nierenzapfen, Backen, Bries, Hirn und Saumfleisch. Die aus der Alltagsküche verbannt worden sind. „Der Geschmack der Kunden hat sich verändert“, sagt Korb. „Viele wissen nicht, welcher Genuss ihnen entgeht.“
Marin Trenk hat es versucht. Er wollte in der Frischfleisch-Abteilung eines Supermarktes mit den dort käuflichen Fleischteilen ein Tier zusammensetzen. Trenk ist gescheitert. Wie sollen aus Schnitzel, Kotelett, Gulasch und vor allem viel Hackfleisch ein Tier entstehen? Klaffende Lücken tun sich auf anstatt eines Tierkörpers. „Diese Lücken stehen für die Esstabus, die sich in Deutschland immer weiter ausdehnen“, sagt der Professor für Kulinarische Ethnologie in Frankfurt. „Wir essen inzwischen Bison, Hai, Strauß, Känguru und Alligator. Aber nur Teile des Muskelfleisches, Schinken, Filet und Kotelett. Innereien werden immer stärker geächtet.“
Esstabus sind in der Ethnologie keine neue Erscheinung. Seit dem 19. Jahrhundert weiß die Wissenschaft, dass sie zu allen Gesellschaften gehören. Esstabus sind eine anthropologische Konstante, aber fast jede Gesellschaft meidet andere Speisen. Fast immer handelt es sich um Tierisches, Pflanzen polarisieren kaum. „Dabei sind Esstabus stärker ausgeprägt bei Tierteilen, die an den Menschen erinnern“, erklärt Trenk. Innereien erinnern den Menschen an die eigenen Organe, an Verdauung und Ausscheidung. Und an die eigene biologische Herkunft.
Kulinarisch betrachtet ist Deutschland noch immer ein geteiltes Land, die Grenze bildet der Main. Die Küche nördlich der Mainlinie ist geprägt von einer nord-mittel-europäischen Kultur, die Küche des Südens von mediterranen Einflüssen. „Die mediterrane Küche ist deutlich besser, sie kann auch Innereien zubereiten“, sagt Trenk. An ihnen lässt sich besonders die Gegensätzlichkeit festmachen. Seit dem Zweiten Weltkrieg werden Innereien im nord-mittel-europäischen Raum zunehmend abgelehnt.
Bei den Hofackers im Schwarzwald
MARIN TRENK, ETHNOLOGIE-PROFESSOR
Also nach Süden. Es ist Montag früh, 800 Kilometer südlich von Hamburg. In der kleinen Metzgerei Hofacker im Schwarzwaldstädtchen Bräunlingen ist Schlachttag. Fünf Fleischer verarbeiten die frisch geschlachteten Tiere zu Wurst. Mit ihren weißen Schiffchen auf den Köpfen arbeiten sie sich an einem großen Metalltisch durch die Fleischberge. Jede Bewegung greift in die andere bei diesem weißem Ballettensemble, nur die Blutspritzer auf den Fleischerhemden irritieren.
Jetzt muss es schnell gehen: Aus dem noch warmen Fleisch wird die Vorwurst gemacht. „Das ist das Geheimnis guter Wurstwaren“, erklärt Juniorchef Michael Hofacker. Die genießen in der ganzen Region einen ausgezeichneten Ruf. Viermal die Woche wird geschlachtet bei Hofacker, ein straffer Rhythmus, der selbst in Süddeutschland, das als Schlachtereldorado gilt, eine Seltenheit geworden ist. Aber gute Wurst und gutes Fleisch zählen hier noch zu den menschlichen Grundrechten, für die keine Mühe gescheut wird. Zur Vesper, der schönsten Tageszeit der Süddeutschen, gehört frische Brat-, Leber- und Schwarzwurst. Wer die isst, weiß, warum dafür Tiere geschlachtet werden.
Immer wenn bei Hofacker geschlachtet wurde, geben sich die älteren Einwohner Bräunlingens die Türklinke in die Hand. „Sie holen die Ohren, das Herz, Schwänzle und Füßle vom Schwein für ihre Sülze“, sagt der Juniorchef. In Brühe und aufgelöster Gelatine werden die Teile eingelegt, im Kühlschrank erstarrt die Masse zur schnittfesten Sülze. Für die Schweineohren nimmt Hofacker 10 Cent pro Stück.
In der Metzgerei wird auch frische Leber angeboten, vom Rind und vom Kalb, die immer schnell vergriffen ist. Gerade Kalbsleber gilt als Delikatesse, auch Kalbsbries, der Thymus des Kalbes, ist begehrt, vor allem in der gehobenen Gastronomie. Zu den Sonntags-und Festtagsgerichten im Schwarzwald zählen Kalbs- und Rinderzungen. Je nach Größe werden sie bis zu drei Stunden gegart, in dünne Scheiben geschnitten und in Madeira-Soße serviert.
Einmal, kann sich Michael Hofacker erinnern, wurden Bullenhoden bestellt, die in Bräunlingen „spanische Nierle“ genannt werden. Ein Euphemismus, eine beschönigende Umschreibung für ein Fleischteil, das „völlig in Ordnung, aber ungewohnt ist“. In Frankreich werden Tierhoden als „weiße Nieren“ verniedlicht, ein Beleg dafür, dass die menschliche Ekelschwelle schnell erreicht wird, wenn Geschlechtsteile oder Köpfe von Tieren gekocht werden.
Immer noch werden in süddeutschen Schlachtbetrieben möglichst viele Tierteile verwertet. Sogar der Penis vom Schwein, der „Saunabel“, wird als Vogelfutter aufgehängt. Aber es werden auch Innereien weggeworfen, wie das Geschling, die Luft- und Speiseröhre oder die Milz, die lange Zeit in der Wurst verarbeitet wurde. „Früher kam gar nichts weg“, sagt der Seniorchef Bernhard Hofacker und empfiehlt das, was er benötigt, um in den Tag zu kommen: eine frische Leberwurst zum pechschwarzen Frühstückskaffee.
Da hängt es im Kühlraum, die Füße sind an einem massiven Metallhaken oben an der Decke befestigt. Der Kopf des Milchkalbes und das Gekröse, der gereinigte Dünndarm, hängen links neben der Tür an Haken. Unten auf den weißen Fliesen kleben ein paar Tropfen Blut, es sieht aus, als ob jemand Erdbeersaft verschüttet hätte. Das Kalb wirkt friedlich, als sei es nur kurz eingenickt.
Der Respekt des Kochs vor dem Milchkalb
Es kommt nicht alle Tage vor, dass Jörg Ebermann ein ganzes Milchkalb verarbeiten kann. Er freut sich wie ein Kind, das ein neues Spielzeug vorführen kann. Mit einem Unterschied: Tiere sind für Ebermann keine Spielzeuge, jedes seiner Worte, jede seiner Gesten zeigt Respekt vor dem Kalb. „Es gibt immer weniger Köche, die ganze Tiere verwerten. Für mich hat das auch mit Ethik zu tun. Mit Respekt vor der Kreatur und der Schöpfung.“ Das bedeutet für ihn: das Tier ganz zu essen oder es leben zu lassen.
Jörg Ebermann ist Küchenchef der „Linde“ im schwäbischen Oberboihingen im Kreis Esslingen. Seit 1982 verleiht ihm der Gault Millau den Bib-Gourmand für sorgfältig zubereitete und preiswerte Mahlzeiten. Ebermann hat sich den Ruf des Freaks erkocht, der mit Innereien, Köpfen und Extremitäten der Tiere Geschmackserlebnisse schaffen kann. Wenn er auf seiner Homepage ankündigt, dass er „Kalbskopf En Tortue“ zubereitet, mit „Schildkröten-Gewürzen“, Rosmarin, Thymian, Piment und Chili, verfallen auch Gourmets und Langsamesser in Hektik: Aus einem Kalbskopf gewinnt er gerade mal zwölf Portionen.
Für Ebermann sind Innereien nicht nur Kollateralschäden von Schlachtungen, die auf die Filetstücke abzielen. Sie besitzen seine ganze kulinarische Wertschätzung. Bis in die Sechzigerjahre wurde ihnen sogar Heilkraft zugeschrieben. „Innereien wurden lange Zeit für die Genesung von Kranken und Rekonvaleszenten reserviert“, weiß Ebermann. Die Leber ist reich an Vitaminen, Herz, Lunge und Niere bestehen aus magerem Fleisch. Aber anders als in Ländern wie Frankreich und Italien erreichen Innereien bei uns nur noch die Gegen-den-Trend-Esser, die sich in Organisationen wie Slow Food zusammentun. „Ich bereite sie alle gerne zu“, sagt Ebermann. „Aber es erfordert eine hohe handwerkliche Fertigkeit. Die Garzeiten sind enorm wichtig und exakt einzuhalten.“ Seine Auszubildenden unterrichtet er mindestens ein Jahr, bevor sie eigenverantwortlich Innereien zubereiten dürfen.
Denn die Krise der Innereien und anderer, mit Esstabus belegten Tierteile ist vor allem die Unkenntnis, mit ihnen umzugehen. „Die häusliche Küchenkultur ist verloren gegangen“, sagt Ebermann. „Jedes Fleischstück ist eine Delikatesse, wenn es gut zubereitet ist.“ Es dauert eine Weile, bis er nachschiebt: „Aber wer weiß noch, wie man es am besten kocht?“
Über der schwäbischen Kleinstadt Asperg, 20 Minuten von Stuttgart entfernt, liegt das Gefängnis Hohenasperg. „Es dauert nur fünf Minuten, um hinaufzukommen, aber ewig, um wieder herunterzugelangen“, witzeln die Einheimischen. Die ziehen es vor, unten im Städtchen zu bleiben, wo das beste Hotel und Restaurant am Platz, der „Adler“, zwei Küchen in Betrieb hat. Das „Aguila“ und die renommierte „Schwabenstube“, seit 2007 mit einem Michelin-Stern dekoriert.
Innereien auf Sterne-Niveau
Was Inhaber Christian Ottenbacher und Küchenchef Harald Derfuß zusammenschweißt, ist die Leidenschaft für verschmähte Tierteile wie Innereien und Köpfe. Sie arbeiten daran, ihnen zur Renaissance zu verhelfen. Auf der Karte der Brasserie „Aguila“ findet man Schwäbische Kutteln mit Meeresschnecken oder Tortilla von Kalbskopf und Steinchampignons. Schweinenierle in Mostsoße zählt zu den am häufigsten bestellten Gerichten. In Planung ist eine „Metzelsupp-Woche“, in der Derfuß vergessene Köstlichkeiten in einer weniger deftigen Version anbieten möchte.
Für den Franken Derfuß ist der Umgang mit Innereien selbstverständlich: Bevor er als Koch bei Küchenstars wie Alfred Klink in Freiburg und als Sous Chef bei Drei-Sterne-Koch Dieter Müller zu arbeiten begann, absolvierte er eine Metzgerlehre. Für ihn würde der Verzicht auf Innereien die Verarmung der kulinarischen Möglichkeiten bedeuten. Aber passen die überhaupt in die Gourmetküche? „Innereien auf Sterne-Niveau sind kein Widerspruch, im Gegenteil“, sagt Christian Ottenbacher. „Sie verhindern Langeweile auf unseren Speisekarten.“
In den großen Küchen Frankreichs und Italiens sind Innereien ein fester Bestandteil, bei uns leiden sie unter dem Image des Arme-Leute-Essens. Diesen ramponierten Ruf möchten Ottenbacher und Derfuß aufbessern. Die Herausforderung besteht darin, Innereien auf so hohem Niveau zu verarbeiten, dass sie mit den Klassikern konkurrieren können. „Wenn der Gast die Wahl hat, zwischen Rinderfilet und Nieren zu wählen, müssen wir es schaffen, dass er sich für die Innereien entscheidet“, sagt Harald Derfuß.
Aber gerade in der „Schwabenstube“ erfordern die gängigen Vorurteile gegen Innereien raffinierte Strategien, damit sie bestehen können: Oft stellen sie einen Gang in einem Menü, wie Kalbsbries als Crêperoulade mit Rote-Bete-Gelee und Spitzkohlsalat. Oder sie werden verpackt, wie die Champagner-Kutteln, die zu Kroketten geadelt und als Beilage zum gebratenen Zander gereicht werden. Panieren, verpacken, verstecken: Innereien benötigen in der Sterne-Gastronomie eine besondere Art der Verarbeitung und Präsentation. Aber neben Filetspitzen und anderen Etepetete-Fleischstücken ist noch viel Platz auf der kulinarischen Landkarte. Es ist ein „Umerziehungsprozess“, den Christian Ottenbacher und Harald Derfuß mit Überzeugungskraft und erfinderischer Kochkunst vorantreiben wollen – an dessen Ende die Rehabilitierung der kulinarischen Außenseiter stehen soll.
Aber ist das noch möglich? Die Forschungsergebnisse von Marin Trenk sprechen dagegen. Der Professor hat eine Zuspitzung von Esstabus nördlich und südlich des Mains beobachtet, für die bisherige Erklärungsmuster nicht mehr ausreichen. „Gerade junge Leute lehnen ausgeprägte Geschmacksträger wie Fett und Innereien radikal ab. Man kann beinahe einen Hass auf Fett und intensiven Geschmack ausmachen.“ Fettränder am Fleisch und Innereien werden als ekelerregend empfunden. Der Trend ist eindeutig: Er geht weg von Tierteilen mit ausgeprägtem Geschmack, hin zu solchen mit wenig Eigengeschmack. Geschmack war lange Zeit der wichtigste Indikator für Qualität, diese Regel gilt so nicht mehr. Fleisch muss aussehen, als ob es nicht von lebendigen Kreaturen käme: Wie in der Fabrik gefertigt, mit neutralem Design, fertig portioniert. „Die Teile sollen nicht mehr so aussehen wie beim lebendigen Tier“, stellt Trenk fest. „Man muss unsichtbar machen, was es einmal war. Was am sichtbarsten an das lebendige Tier erinnert, ist das Problematischste.“
Beliebt dagegen ist Muskelfleisch, das keinen Hinweis auf tierische Herkunft zulässt. So wird das Huhn zu Chicken Nuggets, versteckt unter einer Panade. „Invisibilisierung“, Unsichtbarmachen nennt Trenk diesen Vorgang, den er als Ausdruck des veränderten Verhältnisses von Mensch zu Tier sieht: „Mit Tieren respektvoll zu leben und sie als Nahrung zu verwerten war eine Selbstverständlichkeit, die prägend war über Jahrhunderte“, sagt Trenk. „Das hat sich dramatisch verändert und belegt das merkwürdige Verhalten von Menschen zu tierischer Nahrung.“ Das Tier ist zum Filetspender geworden, dem einige, wenige Teile entnommen werden. Was es sonst hat, ist für viele Konsumenten wertlos geworden.
„Invisibilisierung“, setzt Marin Trenk noch einmal an und bricht wieder ab. Am liebsten würde er jetzt ein Saures Lüngerl bestellen, so wie er es in einem bayerischen Lokal genossen hat. Ein Gericht, das in der neuen Speisenordnung nicht mehr vorgesehen ist. Ein Relikt jener echten Speisen, die aus dem kulinarischen Alltag verstoßen wurden. Die Köstlichkeiten sind rar geworden, es gibt sie nur noch an bestimmten Plätzen.
■ Rainer Schäfer, 46, ist freier Journalist mit den Spezialgebieten Sport, Wein, Essen und Reisen