piwik no script img

Das Meer, zum Rock drapiert

Die letzte Tanzpremiere des Jahres am HAU 3 hat eine große eigenständige Kraft. Anna Nowicka gestaltet Traumbilder, zu denen vegetative Verwachsungen und wie Ameisen krabbelnde Hände gehören

Von Astrid Kaminski

„Dieses Land wächst von Jahr zu Jahr weiter in den Himmel“, so lautet einer der Beschreibungssätze des jüdisch-galizischen Autors Bruno Schulz, mit dem er kurz vor dem Zweiten Weltkrieg „Die Republik der Träume“ beschrieb. In Anna Nowickas neuem Stück „Eye Sea“, dem ersten, das die Tänzerin, Traumarbeiterin und Psychologin am HAU Hebbel am Ufer präsentiert, sind Wolkenfolien über einen Teil der Deckenlampen (Lichtdesign: Sandra Blattner, Juri Rendler) gespannt, so dass sie wie Himmelsfenster wirken.

Der Himmel ist hier wie auch bei Schulz eine Metapher für einen Ort, an dem andere Gesetze gelten, wo Frage und Antwort keiner linearen Logik folgen, sondern vielmehr einer Wechselwirkung von Resonanzen. Wahrscheinlich ist dieser Ort gar nicht im Himmel, sondern tief mit der Erde verbunden, ist er kein Ort, sondern ein Gewebe – bei Schulz eine Architektur der „Intentionen der Natur“, bei Nowicka eine Choreografie, die es in ihrer Dichte und Stimmigkeit schafft, Lebensprinzipien von Körpern in Ergänzung zu ihren Bewegungsapparaten im Raum sichtbar zu machen und ihre Spektren zu erweitern.

Der Raum ist eine fast leere Blackbox, die jedoch mehr und mehr mit dem Stück mitzuatmen scheint. Die Körper der drei Tän­ze­r*in­nen Mor Demer, Anna Nowicka und Kasia Wolińska schmiegen sich zunächst an den Boden an, als wollten sie mit ihm verschmelzen, hingegeben wie Kleinkinder, später sich von den Füßen her aufstemmend, die Hüfte nach oben, während die Schlüsselbeinpartie tiefer in den scheinbar das Anschmiegen erwidernden Boden gedrückt wird. Tatsächlich fällt bei diesem Eindruck erst auf, dass der Tanzteppich an einer Stelle gewellt ist, als würde sich unter ihm die Erde in Falten werfen. Dabei wird der Raum nie symbolisch überfrachtet, sondern sparsam entlang der sich verändernden Atmosphären markiert – wobei die Markierungen weniger wie Zufügungen als wie visualisierte Wahrnehmungen einer unsichtbaren Landschaft wirken.

„Eye Sea“ geht davon aus, dass Bilder die Sprache von Körpern und Träume nicht körperlos sind, sondern im Gegenteil Bestandteile von Körpern. Auch wenn sie nur selten zu Tage treten, werden in jedem Moment Traumbilder produziert. Sie zu erfassen und durch Thematisierung in einem reziproken Prozess zu gestalten, ist die Domäne der Traum­ar­bei­te­r*in Nowicka. Wie tief sie sich in dieses Verfahren eingearbeitet hat, wird durch die dichten, gefüllten Bewegungen, die eigenständigen Rhythmuswechsel, die überraschenden Metamorphosen, Einstülpungen und Ausstülpungen, Verschiebungen und Überlappungen deutlich. Nichts ist willkürlich sondern ereignet sich in Folge fühlbarer, methodischer Präzision.

Nowicka verbindet Tanz, Psychologie und sephardische Traumarbeit

Die drei Tän­ze­r*in­nen folgen durch drei Träume ausgelegten Spuren, die keine wörtlichen Übersetzungen sind. Jede für sich hat große Plastizität. Wenn sie aufeinandertreffen, entstehen je unterschiedliche Reaktionen, mal rhythmisch tänzerische Sequenzen, mal vegetative Verwachsungen, mal spielerische Übersprünge. Kriechtiere, wie Ameisen krabbelnde Hände, die eine Kettenreaktion auslösen und sich plötzlich in die Füße transformieren, DNA-Strang-artige Verdrillingen, Fäuste, die zu Huftieren werden, eine Ziege auf einem Thron, Beine in Hand- und Schulterständen als knorrige Äste oder geheimnisvolle Wegweiser in der Landschaft, manchmal wie in Science-Fiction-Filmen von Lasern verursachte Körperwürfe, ein spieluhrenartiges Öffnen und Schließen puppenartiger Präsenz, ein Rollen, Schulterfädeln, Abtauchen, begleitet von auskomponierten Field Recordings (Adam Świtała).

Es gibt immer wieder stark wirkende Bilder mit und ohne Wiedererkennungseffekt, die ich am liebsten in einem Rahmen festhalten und an die Wand hängen würde. So auch das Schlussbild, wenn die drei Tän­ze­r*in­nen, zur raffael’schen Einheit verschmolzen, das Bodentuch an sich raffen, als würden Sirenen sich das Meer zum Rock drapieren. Ich muss noch einmal an Schulz’ „Republik der Träume“ denken: „Hier geschehen sämtliche Angelegenheiten nur einmal – und das unwiderruflich. Deshalb liegt auch dieser große Ernst, dieser starke Akzent und diese Trauer auf allem, was hier geschieht.“

Ja, Trauer gibt es auch. Es sind keine hoffnungsvollen Träume, die für „Eye Sea“ Pate gestanden haben. Aber es liegt auch keine apokalyptische Endgültigkeit im Raum als vielmehr ein Angebot, Träume zu gestalten. Wie sich im Publikumsgespräch bestätigt, greift Nowicka bewusst nicht zu psychoanalytischen Mitteln. Ihre Werkzeuge hat sie in der Verbindung von Tanz und Psychologie sowie im Studium einer bestimmten sephardischen Tradition der Traumarbeit entwickelt. Ihr Stück macht Lust, tiefer einzutauchen in das Sehen mit geschlossenen Augen.

Noch einmal heute, 20. 12., 20.30 Uhr, HAU 3

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen