: Das letzte Weihnachten, wie wir es kannten
Hach ja, Weihnachten. Für viele bloß noch Fest des Konsums, der Verschwendungssucht und des Ach-einmal-im-Jahr-geht-das-doch! Dabei ist es an der Zeit, sich neue Rituale draufzuschaffen, die ohne Gänse, ohne Geschenkehaufen und fies verseuchte Bäume auskommen. Oder?
Liebes Christkind,
im Familienrat haben wir lange überlegt, ob wir dieses Jahr überhaupt Weihnachten feiern können, wegen Fridays for Future, Artensterben, Flüchtlingskrise und so. Dann kam meine Schwester auf die Idee, es noch einmal so richtig krachen zu lassen, bevor uns alles verboten wird. Die Kohle auf dem Familienkonto bringt eh keine Zinsen, demnächst werden wir sogar was draufzahlen müssen. Wir haben also entschieden, alles abzuheben, und das zu tun, was eigentlich überhaupt gar nicht geht – ein letztes Mal!
Der Plan ist folgender: Papa verschrottet unseren Kombi, Baujahr 2018, und kauft dafür ein SUV. Damit erledigen wir die Einkäufe vor Ort. Für das dritte Adventswochenende kauft Mama Billigtickets nach New York – natürlich online. Der Heinz vom Reisebüro zwei Straßen weiter hat eh keine Checkung.
Meine Freundin Mareike darf auch mitkommen. Die Flüge durch CO2 -Ausgleichszertifikate zu kompensieren, kommt natürlich nicht in die Tüte. Das wäre bei unserem Ansatz ja kontraproduktiv. Im Gegenteil: Wir haben abgemacht, in der Heiligen Nacht die Bäume auf Nachbars Streuobstwiese anzusägen: Ein feiner kreisrunder Anschnitt ringsum und sie gehen ein, ohne dass es gleich einer merkt. (Hihi!)
Auf der Fifth Avenue, New York – du kennst dich ja mit dem Shoppen aus – kaufen wir dann hippe Sneakers – aber nur von Firmen, die sich keine Corporate-Social-Responsibility-Regeln gegeben haben. Es müssen Schuhe sein, die unter Missachtung sämtlicher Arbeits- und Umweltschutzvorschriften hergestellt worden sind. Sie müssen aus einer Fabrik kommen, wo die Arbeiter mindesten 16 Stunden am Tag schuften, nicht aufs Klo dürfen und sechs Tage die Woche in der Werkshalle übernachten müssen. Und sie dürfen nicht mehr als zwei Dollar am Tag verdienen. Das ist absolutes Limit!
Papa hat versprochen, dass wir alle zwei aktuelle IPhones kriegen, damit wir uns keine Gedanken darüber machen müssen, ob mal eines auf den Küchenboden oder ins Klo fällt. Die alten Telefone kommen wie der übrige Elektroschrott in den Restmüll: die alte X-Box, Papas Nasenhaartrimmer und der Staubsauger, sobald der Beutel voll ist. Wir wollen ja nicht durch Recycling den Markt für seltene Erden kaputt machen. Schon gar nicht wollen wir unsere Konzerne daran hindern, unter weiträumiger Zerstörung der Umwelt Erz aus der Erde zu graben. Von denen kaufen wir Aktien, solange sie noch was abwerfen!
Papa will Mama auch mal wieder Schmuck kaufen. Bisher hat sie sich mit Strass von Swarovski begnügt. Der ist für Glas zwar auch ziemlich teurer, kommt diesmal aber überhaupt nicht in die Tüte. Für die Brillis fliegen wir auf dem Rückweg über Antwerpen. Dort soll es die schönsten Blutdiamanten geben. Wenn ich mir die großen traurigen Augen der Kinder vorstelle, die in den Bergwerken schuften, wird mir ganz warm ums Herz!
Zu Hause gehen wir dann zum Aldi und kaufen uns ein paar Kilo Fleisch von Rindern, die garantiert mit Soja aus dem brasilianischen Regenwald gemästet wurden. Das rauszukriegen wird gar nicht so einfach sein; auch nicht, wie wir sicherstellen, dass die H-Milch und die Schlagsahne von Kühen kommen, die tonnenschwere Euter haben.
40 Kilo Milch sollte so eine Kuh schon geben. „Wenn sie am Ende ihre Lebens für mehr taugt, als zum Abdecker zu gehen, haben wir was falsch gemacht“, sagt meine Schwester, die in der Schule aufgepasst hat. Um die entsprechenden Höfe zu recherchieren, haben wir ja „Gott sei Dank“ noch eine gute Woche Zeit. Vielleicht gibst du uns ja einen Tipp! Mit Gott bist ju ja gut bekannt. (Hihi!)
Wenn wir fertig sind mit Essen, gibt es mit Glyphosat behandelten Kaffee. Danach koksen wir ein bisschen Stoff aus Kolumbien und zum Schluss ziehen wir uns noch einen echten Gewaltporno rein. Aber da gehe ich wahrscheinlich schon ist Bett. Das interessiert mich noch nicht so.
Liebes Christkind, du siehst, worauf es Weihnachten bei uns in diesem Jahr rausläuft. Ich hoffe sehr, dass auch du unsere Wünsche berücksichtigst. Ich bin gespannt, ob du es schaffst, noch einen draufzusetzen. Ich baue auf dich!
Vertrauensvoll, deine G.
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