: Der nackte Mensch und das Tier
Unter der Erregung lauert der Traum: Der chinesische Fotokünstler Ren Hang schuf surrealeund kreatürliche Bilder des Menschseins. Die Galerie C/O Berlin stellt ihn nun in einer Werkschau vor
Von Tom Mustroph
Er wolle zeigen, dass Chines*innen keine geschlechtslosen Roboter seien, lautet ein vielzitierter Ausspruch von Ren Hang. Mit seinem fotografischen Werk ist ihm dies geglückt. Denn in seiner Wohnung, aber auch draußen in Parks und Wäldern, auf Hausdächern und in Booten lichtete der Fotograf und Dichter Hang, geboren im Nordosten Chinas, verstorben vor fast drei Jahren, eine Vielzahl unbekleideter Landsleute ab.
Seine Fotografien zeigten Penisse – meist erigierte, denn nur ein erigierter Penis sei schön, meinte Ren –, Vulven und entblößte Brüste. Für einige war das Pornografie, etwa für die Zensoren des Staates. Viele seiner Ausstellungen wurden geschlossen, „manche schon am ersten Tag“, erzählt er in einem Video in der Ausstellung „Love“ bei C/O Berlin.
Verletzlich und kraftvoll
Vertieft man sich in Ren Hangs Werk, spielt die oberflächliche Erregung über die Frage, ob es sich bei seinen Bildern nun um Pornografie oder um Tabubrüche handele, schnell keine Rolle mehr. Denn er eröffnet ganz eigene ästhetische Welten.
Einen nackten Mann sieht man da in etwa drei Metern Höhe zwischen zwei nach oben schießenden Baumstämmen eingeklemmt. Mit einem ausgestreckten Bein stützt sich der Mann ab, das andere Bein ist am Knie abgewinkelt und trifft mit dem Fuß den hinteren Baumstamm. An den ist auch der Po gepresst. Die gekrümmten Arme beschreiben eine geschwungene S-Form; die Hände fassen die gegenüberliegenden Stämme. Der nackte Mann ist zusammengekauert, schwebt aber hoch über dem Boden, gehalten von der Kraft, mit der er sich zwischen den beiden Stämmen abstützt.Er ist ein nacktes, verletzliches Wesen. Und dennoch scheint die Kraft der mit rauer Rinde ummantelten Baumriesen auch in ihn überzufließen. Die Kreatur Mensch geht in der Natur auf.
Dieses Motiv der Energieübertragung zieht sich durch viele seiner Arbeiten. Ren fotografierte nackte Frauen im hohen Gras, die langen Grasbüschel als Verlängerung des Schamhaars. Ein anderes weibliches Modell liegt Ophelia-gleich im Wasser. Riesige Blätter von Seerosen rahmen ihr starres Antlitz ein.
Andere Konstellationen schuf Ren mit lebenden Tieren, mit Schlangen etwa, die sich um lange Beine winden oder Kaimanen auf Kopf oder Rücken.
Es sind Bilder, die in Traumreiche führen. Manches scheint angeregt von Shakespeare oder Dalí. Märchengestalten kommen einem in den Sinn, und auch die schwachen Erinnerungen an Träume kurz nach dem Aufwachen. Beeindruckend sind besonders die Kompositionen aus Stadt und nackten Körpern. Auf einem Wellblechdach liegen zwei Körper, Arme und Beine gespreizt. An den Händen halten sie sich, die Köpfe berühren einander. Körperlinien und Wellenlinien des Daches überschneiden sich, interferieren miteinander. Im Hintergrund sieht man die Wolkenkratzer aufragen, mächtige Bauwerke im Vergleich zu den beiden schutzlosen nackten Körpern. Und dennoch befindet sich beides im Dialog, das nackte Schwache mit den erigierten Massen aus Beton, Stahl und Glas.
Ren verschiebt die Proportionen und die Gewichte, wobei der Mensch zentral und fragil zugleich wird. Außerdem hat er einen subtilen Sinn für Humor. Denn auch die Gruppenbilder, die das kommunistische China einst visuell prägten, finden bei ihm einen Nachhall. So fügen sich fünf Models, auch sie unbekleidet, zu einem fünfzackigen Stern. Die Köpfe ruhen im Kreis nebeneinander, das Haar ist miteinander verflochten, und die Beine streben vom Zentrum weg.
Im freien Fall
Schmerz lösen zwei Bilder aus. Eines zeigt eine Figur über dem Geländer einer Dachbegrenzung, die sich von dort zu lösen scheint. Das zweite zeigt einen jungen Mann im freien Fall vor einer Hauswand. Ren Hang nahm sich 2017 mit nur 29 Jahren das Leben, indem er sich aus dem Fenster stürzte. Sind die bedrohlichen Bilder eine Vorahnung? Ahmte er die eigenen Aufnahmen nach?
Gewiss ist nur, dass er an depressiven Schüben litt. Besonders die Ablehnung mag ihm zugesetzt haben. Er werde vor allem online attackiert, beklagte sich Ren Hang. Seine „social credits“ werden wegen des Pornografievorwurfs in China ohnehin nicht sonderlich hoch gewesen sein. In China war er ein Underground-Star und Verfolgter, im Westen wurde er oft auf Tabubruch und Verfolgtsein reduziert.
Gut, dass C/O Berlin sein Werk nun in epischer Breite zeigt und man Einblicke in einen Kosmos bekommt, in dem Stärke und Schwäche aufgelöst sind, weiblich und männlich keine Antagonismen mehr darstellen und das Kreatürliche einfach fließt. China ist weniger anders, wenn man es durch die Kameralinse Rens sieht.
„Love“, Ren Hang, C/O Berlin, bis 29. 2. 2020
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