piwik no script img

Kleiner Stachel tut weh

Die Literaturzeitschrift „Wespennest“ hat von Wien aus deutschsprachige Essaykultur mitgeprägt. Nun feiert sie 50-jähriges Jubiläum

Von Ralf Leonhard

Die Redaktion hat sich zum runden Geburtstag „ein Meta-Heft geschenkt“, sagt Andrea Zederbauer, Herausgeberin und Geschäftsführerin der Wiener Literaturzeitschrift Wespennest. Es geht um das, was auf den Seiten des halbjährlich erscheinenden Magazins seit Jahren geübt wird, um den Essay.

Franz Schuh, ständiger Mitarbeiter und Schwergewicht unter den österreichischen literarischen Philosophen, zerbricht sich den Kopf über die Möglichkeit, in der Essayistik Konflikte auszutragen. Er schätzt den Essay als „unreine Form“, die „erzählerische Passagen genauso wie analytische enthalten“ könne, „selbst lyrische Einschübe“.

Rückbezüge auf Montaigne und Adorno sind wichtig. Ersterer hielt Authentizität hoch und wollte sich „ohne Beschönigung und Künstelei“ präsentieren, Zweiterer sah den Essay als „Versuch, notwendige und zwingende Erkenntnisse über Menschen auszusprechen, die nicht ohne weiteres von der Wissenschaft eingeholt werden können“. Schuh würdigt auch den 2018 verstorbenen Michael Rutschky, obwohl die Zuneigung nicht gegenseitig war: „Er hasste mich sofort.“ Allerdings nicht persönlich, sondern, und da zitiert er Walter Klier, als Anhänger „eines linksgetönten, stets undogmatisch angehauchten bundesdeutschen Kulturpessimismus“.

Wespennest trat im Herbst 1969 an, mit der Absicht, die Literaturlandschaft aufzuschrecken. Geburtshelfer waren der damals 26-jährige Schriftsteller Peter Henisch und der 20-jährige Regisseur Helmut Zenker, der später den populären TV-Kommissar Kottan erfinden sollte. Ihrem Auftrag, Unruhe in die Literaturszene zu bringen, ist die Zeitschrift treu geblieben. In den Achtzigern verpassten Franz Schuh und ein junger Josef Haslinger dem Wespennest eine Neuausrichtung, die mit Internationalisierung einherging und neben thematischen auch Länderschwerpunkte einführte.

Im Interview mit Josef Haslinger, der jetzt am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig Ästhetik lehrt, will Andrea Zederbauer von ihm wissen, ob der Essay als Literaturgattung noch zeitgemäß sei. „Nachgefragt ist er nicht so sehr“, gesteht Haslinger. Er biete das in seinen Vorlesungen aber an, weil er Essays für wichtig halte. Für Haslinger sei die Gattung bedeutsam, weil sie „das freie Denken aufrechterhält“. Wespennest habe für Haslinger eine sympathische Rolle zwischen der Zeitschrift manuskripte, „mit ihrem experimentellen, avantgardistischen Anspruch“ und dem „linken Dogmatismus des sozialistischen Realismus“ erfüllt. Aber: zwischen Werkkreisliteratur, Arbeitertheater und Lehrlingstheater habe man irgendwann gemerkt, „dass uns der literarische Anspruch verlorenging“.

Mitherausgeberin Andrea Roe­dig erinnert in ihrem Beitrag daran, dass Frauen ebenfalls Essays schreiben. Sie illustriert das mit der Vorstellung dreier unterschiedlicher Autorinnen: Zadie Smith, Marija Stepanowa und Enis Maci gehören nicht nur unterschiedlichen Generationen an, sondern sind auch in unterschiedlichen Milieus aufgewachsen. Zadie Smith (Jahrgang 1975), als Tochter einer Britin und eines Jamaikaners in London groß geworden, steht noch in der klassischen Tradition. Für sie sei „ein Zeitschriftenessay glänzend wie eine schöne Perle“. Die Moskauer Lyrikerin Marija Stepanowa (geboren 1972) habe mit „Nach dem Gedächtnis“ in Wahrheit nicht einen Familienroman, sondern mangels harter Fakten „einen 400-seitigen Essay“ verfasst. Enis Maci, geboren 1993, wird gerne als Autorin der „Post-Internet-Literatur“ beschrieben, „für die das Netz eher ein natürlicher Bewusstseinszustand ist denn ein Thema“. „Wie Gewitter kreisen Macis Texte ohne Anfang und Ende, ein Gewölk aus Gedanken, Einfällen, Erinnerungen, Beschreibungen, Analysen, Zitaten …“, schreibt Roedig. Die Autorin, die sich unter anderem mit den Identitären beschäftigt, analysiere etwa „die Funktionsweise der neuen Rechten anhand der Schminktechnik von Alina Wychera“.

Michael Lissek vom Kultursender SWR2 in Stuttgart, der den spätabendlichen Sendeplatz „Essay“ betreut, versucht nachzuweisen, dass der Essay auch akustisch funktioniert, nämlich nicht als vorgetragener Text, sondern als Zusammenschnitt von Reflexionen. Das Titelblatt der Jubiläumsausgabe ziert übrigens ein Wespenstachel in hundertfacher Vergrößerung: 50 Jahre Wespenstiche – sie wurden immer gebraucht und werden weiterhin gebraucht.

„Wespennest“: „Essay. 50 Jahre Wespennest“, Wien 2019, 112 Seiten, 12 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen