: Hertha freut sich viel zu früh
Beim Auswärtsspiel in Hannover startet Hertha BSC mit gutem Spiel in die neue Bundesligasaison. Dank schöner Tricks und kluger Pässe liegen die Berliner 2:0 in Führung. Am Ende reicht es gegen die harmlosen Hannoveraner aber nur zu einem 2:2
AUS HANNOVER CHRISTIAN OTTO
Der schleppende Gang, mit dem Gerhard Tremmel den Sanitärbereich der AWD-Arena verließ, verriet alles. Sein erstes Bundesligaspiel nach zwei Jahren Ersatzbank hatte für den Torhüter von Hertha BSC Berlin ein unangenehmes Ende genommen. „Das war doch ein sehr schönes Tor. Das werden Ihnen sicher auch viele andere Torhüter bestätigen“, meinte der 26-Jährige und war im Stadion seines früheren Arbeitgebers nicht zum Scherzen aufgelegt.
Er sprach über die 88. Minute, Hertha führte noch mit 2:1 bei Hannover 96, ehe Michael Tarnat zum Freistoß schritt. „Gesehen habe ich den Ball, nur halten konnte ich ihn nicht“, meinte Tremmel zu dem Gewaltschuss aus 18 Metern, der im Torwinkel einschlug. 96-Stürmer Thomas Brdaric hatte sich angesichts des nahenden Geschosses gerade noch in Deckung bringen können. Und Tremmel musste machtlos mit ansehen, wie der Freistoß ein 2:2 (0:0) besiegelte, an das nach einer 2:0-Führung kaum noch einer geglaubt hatte.
Das Berliner Ball-Ensemble, so darf man es wohl formulieren, hat sich zum Saisonstart ein wenig selbst ausgetrickst. Denn während Gastgeber 96, abgesehen von einem Kopfball-Tor zum 1:2 durch Christoph Dabrowski (66.) und Tarnats Knalleffekt, vor 40.473 Zuschauern wenig eingefallen war, gelangen der Hertha-Elf viele virtuose Dinge. „Wir haben 65 Minuten guten Fußball gespielt. Aber eine solche Führung darf man nicht mehr wegschenken“, meinte Nationalspieler Arne Friedrich, der den umstrittenen Elfmeter zum 0:1 durch Marcelinho (49.) herausgeholt hatte.
Nach dem 0:2 (54.) des frechen Artur Wichniarek hätte der Auswärtssieg zum Saisonstart schnell besiegelt werden können. Doch im niedersächsischen Nieselregen gingen Marcelinho, Gilberto und Nando Rafael zu leichtfertig mit den vielen Chancen um. Unaufhörlich kritzelte 96-Trainer Ewald Lienen in seinem berühmten DIN-A5-Notizblock herum. Allein für die Gelegenheiten, die Marcelinho ausließ, dürfte er eine ganze Seite gebraucht haben.
Es waren herrliche Kontraste, die diese Partie zu bieten hatte. Auf der einen Seite dirigierte der begnadete Marcelinho mit schönen Tricks oder Pässen das Offensivspiel der Hertha und brachte Farbe ins Spiel. Mit silbern gefärbtem Haupthaar war er des Gegners Tor entgegengeeilt und hatte selbst Hannovers hochgelobten Abwehrchef Per Mertesacker mehrfach düpiert.
Auf der anderen Seite war es der 35-jährige Tarnat, dessen Frisur auf natürliche Art und Weise durch graue Haare angereichert ist, der sich um den Spielaufbau bei 96 bemühte. Aber der neue Millionensturm mit dem fleißigen Brdaric und dem enttäuschenden Vahid Hashemian irrte hilflos umher. Linksverteidiger Tarnat gelang es noch am besten, 96 mit ein paar schönen Pässen aus der Umklammerung der Hertha zu befreien. Der ehemalige Nationalspieler läuft nicht mehr viel, besticht aber mit seiner Übersicht und Schusskraft. „Beim Freistoß habe ich nur gedacht: Hauptsache aufs Tor. Ich glaube, das ist mir ganz gut gelungen“, sagte Tarnat grinsend.
Schöner spielen, besser kombinieren, aber doch nicht gewinnen – Falko Götz wertete das Remis in Hannover wie eine Niederlage, ohne gegen Einzelne gezielt nachzutreten. „Einige bei uns hatten das Spiel nach dem 2:0 innerlich schon abgefeiert“, meinte der Hertha-Trainer. Gegen in der Spielanlage harmlose Hannoveraner war sein Team noch einmal in Bedrängnis gekommen. Südländisch und ballverliebt trifft norddeutsch und dröge – das Duell zweier unterschiedlicher Fußball-Philosophien endete remis. „Aber fünf Minuten länger und wir hätten das Ding sogar noch gedreht“, meinte 96-Angreifer Brdaric.
Beide Mannschaften nehmen jede Menge Hausaufgaben mit in die nächste Woche. Während sich die Mehrheit der 96-Spieler darum sorgt, wie die Ideenlosigkeit im Mittelfeld und Angriff behoben werden kann, war das Führungspersonal der Hertha längst mit ganz anderen Dingen beschäftigt. „Vor dem nächsten Spiel“, sagte Marcelinho und sprach trotz des verpassten Sieges schon wieder über seine Haare, „werde ich die Fans wohl wieder mit einer neuen Farbe überraschen.“