piwik no script img

Erst ein flotter Twist in der Diskothek, dann die Beziehung

Der Kulturwissenschaftler Hans Hütt analysiert vier Jahrzehnte an­hand von Wörtern, die in Mode kommen: „Die 50er“ bis „Die 80er“. Manchmal liegt so der Bitterfelder Weg neben den Beatles

Hans Hütt: „Die 50er. Ein Jahrzehnt in Wörtern“, „Die 60er. Ein Jahrzehnt in Wörtern" et al., Dudenverlag, Berlin 2019, je 128 S., je 12 Euro

Von Helmut Höge

Die inzwischen 27. Auflage des „Duden“ erschien 2017. Sie enthielt 5.000 neue Wörter (zum Beispiel „Ampelfrau“). Im gleichen Jahr beauftragte die Redaktion den Kulturwissenschaftler Hans Hütt, vier Jahrzehnte, beginnend mit den 50ern, nach charakteristischen Wörtern (hüben wie drüben) zu durchforsten. Daraus entstanden vier Bücher, wobei die Stichworte Oberbegriffen – wie Alltag, Mode, Wirtschaft – zugeordnet wurden. Für Journalisten sind die Bücher mit den jeweils auf einer Seite erklärten Wörtern ziemlich brauchbar. Der erste Band beginnt mit den Einträgen „Arbeiter-und-Bauern-Fakultät“, „Halbstarke“, „Hobby“ und „Hula-Hoop-Reifen“. Wenn man dem Autor glauben darf, dann setzten sie sich in den fünfziger Jahren durch. Das ähnelt dem Duden, der 2017 etwa das Wort „Späti“ für bekannt genug hielt, um es in seiner Neuauflage aufzunehmen. Für seinen 50er-Jahre-Band listet Hütt als letztes das Wort „Wirtschaftswunder“ auf.

Seine 60er Jahre beginnen mit dem Computer „Maniac“, mit dem die erste Wasserstoffbombe berechnet wurde. Doris Day sang das Geigerzählerlied „Tic, tic, tic“. Deutschland demonstrierte die friedliche Nutzung der mit „Lochkarten“ funktionierenden Computertechnik, indem es 1965 alle hessischen Abiturienten aus zehn Jahrgängen auf Lochkarten erfasste. Den damals neuen „Hawaii Toast“ wollte jeder mindestens einmal probieren. Ähnliches galt für die „Antibabypille“. Manche Wörter, wie „Contergan“, erklärt Hütt an der Geschichte einer Betroffenen, andere, wie den neuen Tanz „Twist“ (in den ebenfalls neuen „Diskotheken“), als Verb: „twisten“ (mit Foto). Oder die Automatisierung jener Zeit beschreibt er über ein Adjektiv: „automatisch“.

Bei einigen Wörtern reicht die Genealogie weit zurück, zum Beispiel bei „Gastarbeiter“, die ab Mitte der fünfziger Jahre angeworben wurden, aber 1965 durften die türkischen Muslime unter ihnen erstmalig das Ende des Ramadan in den Seitenschiffen des Kölner Doms feiern.

Aufschlussreich auch, wie wenig Mühe sich die Betreiber und Befürworter der ersten „Kernkraftwerke“ in der Anfangsphase mit ihren Argumenten gegen die AKW-Gegner gaben: Das Risiko, so hieß es, durch einen häuslichen Unfall zu sterben, sei 5.000-mal so groß „wie als Wohnnachbar eines Kernkraftwerks“. In den Sechzigern gab es noch keine Anti-Atomkraft-Bewegung, die „antiautoritäre Studentenbewegung“ thematisierte eher das atomisierte Proletariat. Im „Inhaltsverzeichnis“ tauchen der „Bitterfelder Weg“ und die „Beatles“ nebeneinander auf: Darüber kann man nachdenken.

Im Buch „Die 70er“ wird das Wort „Alternativen“ zu einem Oberbegriff – mit Eintragungen über „Bürgerinitiativen“, „Frauenbewegung“, „authentisch“ und „hinterfragen“. Weil der Autor 1953 geboren wurde, wurde er erst in den siebziger Jahren politisiert – und weil er dann in der Schwulenbewegung aktiv war, taucht bei ihm unter „Gesellschaft“ das Wort „Besenkammer“ auf: eine winzige HO-Moccabar unter der S-Bahn-Brücke am Alexanderplatz, die schon von Alfred Döblin erwähnt wird. Es ist eine „Nische“, was bei Hans Hütt jedoch einen Extraeintrag bekommen hat. Die Systemopposition schlägt sich bei ihm in den Wörtern „Ausbürgerung“ und „Schickeria“ nieder.

„Die 80er“ beginnen bei ihm mit dem Wort „Aids“. Darauf folgt die „Beziehung“, mit einem Foto von Prinz Charles und Prinzessin Diana. Ähnlich seltsam findet man zunächst in der Sparte Politik die „Frauenquote“, die polnische „Solidarność“ und den „Waldspaziergang“. Mit Letzterem ist allerdings ein Abrüstungsgespräch zwischen einem amerikanischen und einem sowjetischen Unterhändler am Genfer See gemeint. Dort am Ufer gibt es aber doch gar keinen Wald, Hans!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen