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Das Recycle-Festival

„Alles ist Material. 20 Jahre ‚Postdramatisches Theater‘ “ liefert einen eher ernüchternden Rückblick auf die titelgebende, einst revolutionär daherkommende Kunstpraxis – mit prominenten Hero*innen wie She She Pop

She She Pop spielen kanonische Performances nach in „Kanon“ – und sind selbst schon Teil des postdramatischen Kanons Foto: Dorothea Tuch

Von Tom Mustroph

Selten haben Künstler*innen ein Festivalmotto derart mus­ter­schü­ler*innenhaft umgesetzt. Die Verwertung historischen Materials stand sowohl bei „Playblack“, der Masterarbeit von Joana Tischkau vom Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft, als auch bei „Kanon“, dem neuen Werk der Postdramatik-He­ro*in­nen von She She Pop, im Zentrum.

Tischkau recycelte mit ihren Kolleginnen Annedore Antrie und Clara Reiner schwarze Popmusik der 1970er bis 2000er Jahre. Lippensynchron trugen sie Songs von Michael Jackson und Whitney Houston, Roberto Blanco und dem einst skandalösen Playback-Duo Milli Vanilli vor. Bis in die Gesten hinein imitierten sie ihre Vorbilder. Das war perfekt ausgeführt und erzeugte fröhliches Erinnern beim Publikum.

Natürlich war ein Diskurs über diese Playbackshow absehbar: die Ausbeutung von schwarzen Stimmen und schwarzem Bewegungstalent für die – damals noch eher weißen – Verkaufszielgruppen der Musikindustrie. Das Vorhaben ging auf, wenngleich vielleicht nicht immer auf die beabsichtigte Art und Weise.

Schenkt man dem Smalltalk nach der Aufführung Glauben, konnten sich die Performerinnen selbst nicht von der von ihnen kritisch betrachteten Repräsentationslogik befreien. Denn der Publikumstenor war, dass, wenn Tischkau selbst und Antrie – beide Artists of Color – performten, sich in den Köpfen des Publikums das Bild der musikalisch und rhythmisch einfach viel talentierteren Menschen mit afrikanischen Vorfahren reproduzierte. Die Bemühungen der bleichhäutigen Clara Reiner wurden zwar ebenfalls goutiert, die Unterschiede zu den beiden Kolleginnen aber dennoch hervorgehoben. Ihre größte Passgenauigkeit schien Reiner als Verkörperung von Thomas Gottschalk zu haben. In einem mit der originalen Audiospur unterstützten Reenactment wurde ein Besuch des „King of Pop“ bei „Wetten, dass ..?“ nachgestellt. Jackson präsentierte sich den enthusiasmierten Massen, nickte hier, grüßte dort, während Gastgeber Gottschalk sich erfolglos bemühte, inmitten des Jubelgetöses ein Gespräch in Gang zu setzen. Der Affekt hatte alle Hirne beherrscht, und nach der Vorstellung konnte man mithilfe der YouTube-Aufzeichung der Show kontrollieren, wie exzellent das Reenactment inszeniert war.

Höhepunkt von „Playblack“ war der Diskurs um Milli Vanilli; Produzent Frank Farian spaltete damals das Singen und Tanzen auf. Fab Morvan und Rob Pilatus übernahmen den Bewegungspart und agierten zugleich lippensynchron zum aufgezeichneten Gesang des Ex-GIs Charles Shaw. Hier war nicht einmal die Stimme authentisch.„Playback“-Regisseurin Joanna Tischkau blieb leider vornehmlich eine schlaue Materialsammlerin. Sie ordnete aber nicht ein und scheute sich auch vor einer Positionierung dazu, ob Differenz für sie bereits Diskriminierung bedeutet oder sie hier noch begrifflich trennt.

„Kanon“ erreichte nicht einmal dieses Reflexionsniveau. Scheinbar wahllos reihte die um Gäste erweiterte Kerngruppe von She She Pop Mi­nia­tur-Reenactments vergangener Thea­ter-, Tanz- und Performancemomente aneinander. Produktionen von Einar Schleef und Christoph Schlingensief, Pina Bausch und William Forsythe, René Pollesch und Forced Entertainment gehörten dazu. Selten indes wurde herausgearbeitet, was genau den Moment so besonders gemacht hatte. Viel wurde mit einem an Theatersport erinnernden Requisiteneinsatz verwitzelt.

Ann Liv Young produzierte Fäkalien und offerierte sie dem Publikum

Am stärksten prägten sich Erinnerungen ein, bei denen es um Skandal und Provokation sowie den Einbruch des Realen ging. Ilia Papatheodorou etwa ließ die Kolleg*innen nachstellen, wie die Extremperformerin Ann Liv Young vor acht Jahren in ihrer „Cinderella“-Produktion im HAU3 zuerst im Prinzessinnenkostüm eigene Fäkalien produzierte und sie dann – fein verpackt – dem Publikum mit dem Slogan „Buy my shit“ offerierte. Eine Zuschauerin berichtete von einer Theateraufführung in Avignon, die durch einen heftigen Regenschauer zur existenziellen Erfahrung geriet.

Brachialprovokationen wie die der besagten Ann Liv Young gehören allerdings nicht zum Leitbild des spätbürgerlich gemäßigten postdramatischen Theaters. Echter Regen hätte dem blässlichen Erinnerungsreigen vielleicht auch gutgetan.

„Alles ist Material“ illus­trierte vor allem die Gefahr, alles als Material begreifen zu wollen und sich in der Fülle des potenziell Verwertbaren gar nicht mehr um die Verarbeitungsprozesse selbst und die ästhetische Anordnung des Verdauten zu kümmern. Das Festival setzt sich bis 29. 11. fort, mit weiteren Aufführungen von „Kanon“ sowie Gob Squads Evergreen „Dancing About“.

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