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Archiv-Artikel

Gelungener Fluchtversuch

Justin Gatlin enteilt der Konkurrenz im 100-Meter-Finale um sagenhafte 17 Hundertstelsekunden. Nun will der Amerikaner den Weltrekord des in Helsinki pausierenden Asafa Powells brechen

„Ich bin der schnellste Mann der Welt und werde esauch in Zukunft sein“

AUS HELSINKI FRANK KETTERER

Unten in der Mixed-Zone hatte sich eine Menschentraube gebildet, und so sehr wie die Reporter unter heftigem Einsatz ihrer Ellbogen drängelten, konnte es sich nur um eine sehr, sehr wichtige Person handeln, die da gnadenlos belagert wurde. Das Menschenknäuel schob sich unruhig hin und her. Und manchmal gab er für einen kurzen Moment sogar den Blick frei auf sein Innerstes, auf Asafa Powell, den schnellen Mann aus Jamaika. 9,77 Sekunden war Powell diesen Juni über 100 Meter gelaufen, was seitdem Weltrekord ist, am WM-Rennen von Helsinki teilnehmen aber konnte der 23-Jährige wegen einer Adduktorenverletzung nicht. Von solch Kleinigkeiten ablenken lassen sich die Berichterstatter dieser Welt freilich nicht. Sie knipsen ihre Kameras an und ihre Mikrofone, halten Block und Stift bereit und fragen mit gierigen Augen: Asafa, sag uns, hättest du das Rennen gewonnen? Und Asafa, der nach allem, was man so von ihm weiß, ein von seinen rasenden Fähigkeiten überzeugter Kerl ist, hat geantwortet: „Ja. Natürlich hätte ich gewonnen.“ Was hätte er auch anderes sagen sollen?

Es gibt freilich Menschen im schnellen Reich der Leichtathletik, die das ein wenig anders sehen. Justin Gatlin zum Beispiel. Auch um den Amerikaner balgten sich etwas später am Abend die Berichterstatter, und auch Gatlin zeigte sich vor Selbstvertrauen strotzend. „Wenn Asafa am Start gewesen wäre“, stellte der 23-Jährige aus Raleigh im US-Bundesstaat in North-Carolina fest, „wäre ich eben noch schneller gelaufen. Ich hätte auf jeden Fall gewonnen.“ Weil: „Ich bin gut in großen Rennen.“ Und überhaupt: „Ich bin der schnellste Mann der Welt und werde es auch in Zukunft bleiben.“

Das mögen große Worte sein, aber das ist man ja gewohnt von den Raketenmenschen. Zumal sie so ganz aus der Luft gegriffen nun auch wieder nicht scheinen. Nicht nur, dass Gatlin keine Stunde zuvor mit einer Zeit von 9,88 Sekunden Weltmeister geworden war, vor allem die Lockerheit, mit dem er sein Meisterstück auf der roten Sprintbühne des Helsinkier Olympiastadions präsentiert und Michael Frater aus Jamaika sowie den von der karibischen Inselgruppe St. Kitts & Nevis stammenden Titelverteidiger Kim Collins hinter sich gelassen hatte, machte tiefen Eindruck. Um die Sprintewigkeit von 17 Hundertstelsekunden hatte Gatlin die beiden distanziert, es ist der größte Abstand, den es bei einer WM je gegeben hat. Frater und Collins, so muss man das wohl sehen, waren weniger Gegner als vielmehr Opfer – und die ausgelassene Art, in der sie sich hinter dem Zielstrich über Platz zwei und drei freuten, zeigte, dass sie sich dessen schon im Vorfeld bewusst waren. Selbst der große Carl Lewis hatte es in seinen besten Zeiten nur auf eine Differenz von 15 Hundertstel gebracht. „Huh“, frohlockte Gatlin entsprechend, als man ihn auf diesen historischen Umstand hinwies, „dann habe ich ja doch eine Art von Rekord geholt.“

Letztendlich geht es für Justin Gatlin nur noch darum: um den Rekord, den Weltrekord. Es ist das Einzige, was ihm in seiner Sammlung noch fehlt, in allen anderen Bereichen ist er, obwohl erst 23, auf Augenhöhe mit den Allergrößten seiner Zunft: Er ist letztes Jahr in Athen Olympiasieger geworden und nun Weltmeister. Und wenn er hier seine Prophezeiung wahrmachen und auch die Titel über 200 m sowie mit der Staffel gewinnen sollte, wofür die Chancen so schlecht nicht stehen, hätte er ein weiteres Kunststück vollbracht, das bisher nur seinem Landsmann Maurice Greene gelungen ist. Zwar hält auch der sich unverändert für den schnellsten Menschen dieses Planeten und hat das vor dieser WM auch laut kund getan („Es ist eigentlich kein wirkliches Rennen, wenn ich nicht dabei bin“), aber so richtig ernst muss man das eher nicht mehr nehmen. Greene ist jetzt 31 – und für diese WM hat er sich lediglich für die Staffel qualifiziert. Wenn alles glatt läuft, wird Greene die auch gewinnen – aber nicht gegen, sondern mit Gatlin.

Dem bleiben auf dem Weg zu seinem großen Ziel derzeit nur zwei Gegner: die Stoppuhr, die möglichst bald den Weltrekord anzeigen soll. Und Asafa Powell, der diesen Weltrekord hält, dafür aber noch keinen großen Titel gewonnen hat; bei den letzten Aufeinandertreffen hatte der Olympiasieger und Weltmeister stets die Nase vor dem Weltrekordler. Dennoch: Gatlin gegen Powell – das dürfte das große, elektrisierende Duell der nächsten Jahre werden, schließlich sind beide noch jung. Justin Gatlin hat jedenfalls schon im Frühjahr festgestellt, dass Powell „ein legendärer Gegner für den Rest meiner Karriere“ sei, was bestimmt als Kompliment gemeint war. Nach seinem Titelgewinn in Helsinki hat der US-Boy keinen Zweifel daran gelassen, wie er sich die Fortsetzung des Zweikampfes vorstellt: „Ich bin Weltmeister und Olympiasieger. Aber ich will, dass Justlin Gatlin der Sieger von allem ist. Und ich will den Weltrekord.“